verstörend

Klar ist er ein Kind der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts des gefühlt gerade vergangenen Jahrtausends. Natürlich hat er damals, obwohl in der tiefsten Provinz wohnend, durchaus mitbekommen, dass es bezüglich der Freizügigkeit der Kleidung durchaus Veränderungen gegeben hat. Er kann sich noch sehr gut daran erinnern, dass seine Mutter sich immer künstlich aufgeregt hatte, wenn die jungen Frauen damals kurze und zuweilen auch sehr kurze Röckchen trugen. Nein nein, wenn jemand es wirklich wollte, konnte auch schonmal ein Teil der Unterwäsche gesehen werden oder eben auch nichts davon, weil keine getragen wurde. „Reinste Provokation!“ hätte sie vielleicht sagen können, doch eher war dann das vernichtende Urteil „Flittchen!“ zu hören. Die jungen Frauen damals waren sich sehr wohl der Wirkung ihrer Kleidung bewusst und hatten Spaß an der verstörenden Wirkung.
Heute ist es durchaus normal, dass Mädchen ab 10 Jahren ihre Tops bauchfrei tragen, dass solche ab sechzehn auch noch Piercings im Bauchnabel spazieren führen. Daran hat der Mitteleuropäer selbst auf dem Land sich schon lange gewöhnt. Und in den Zeiten der sogenannten „body positivity“ können die Anblicke zuweilen durchaus ungewöhnlich sein, etwa bei Festivals.
Verstörend allerdings war es für Herrn Nipp dieser Tage, als ihm im kleinen Kleinstadtpark ein junger Mann entgegen kam, der nicht nur einen Minirock trug (Das kennt er seit langem.), sondern auch noch ein Oberhemd, das kurz oberhalb seiner Brustwarzen endete. Er fragte sich glatt, ob er das vielleicht auch mal ausprobieren sollte, aber erstens fühlt er sich dafür zu alt und zweitens ist und bleibt er im tiefsten Inneren ein unverbesserlicher Spießer.

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Schreiber

Er hat sich mit rund 20 Leuten getroffen. Dazu hatten einige sich ausgedacht, in Zukunft Romane zu veröffentlichen, die nicht von einem Autor, sondern von einem ganzen Kollektiv verfasst wurden. Wenn zwanzig Menschen an einem Plot arbeiten, sollte es kein Problem sein, innerhalb einer Woche einen 200seitigen Roman zu verfassen. Jeden Tag treffen sie sich nun. Immer zwei Stunden abends. Sie sitzen an ihren tragbaren Rechnern und tippen und manchmal wird leise geflüstert und nächste Woche, so ist der Plan, soll das Buch zum Lektor gehen und dann schnell in den Druck. Bei zwanzig Autoren kann der Verlag davon ausgehen, dass die Auflage schnell vergriffen ist.

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über die Straße

Nur noch selten kommt es vor, dass Herr Nipp abends von der Kneipe nach Hause geht. Das liegt weniger daran, dass er ungern dorthin ginge, sondern an der mangelnden Auswahl. Mit den Jahren haben die meisten Gasthäuser, Kneipen und kleinen Lokale einfach geschlossen und seitdem vor einem halben Jahr auch noch seine Lienblingskulturkneipe dicht gemacht hat, weil das Dach nicht mehr dicht war, hat er wirklich wenig Lust, in die Stadt zu gehen. Aber manchmal überkommt es ihn dann doch so sehr, dass er sogar in die schlimmste Spelunke geht, die man sich so vorstellen kann. Und ganz ehrlich, an solchen Tagen ist die besser, als allein auf dem Sofa daheim seine Einsamkeit zu feiern. Diesen Abend war er draußen, hat einige Leute getroffen, einige seltsame Typen kennengelernt und auf dem Rückweg eine dieser Entdeckungen gemacht, die nur passieren, wenn du völlig unvorbereitet bist. In der Gosse, das bemerkte er im Überqueren der Straße, lag eine rosafarbene Schlange. Alle Blüten dieser Stadt – so kam es ihm vor – hatten sich dort vereint und waren zu einem neuen Wesen geworden. Hoffentlich hat das nichts mit dem Fusel zu tun, dachte er nur, den mir einer der neuen Bekannten ausgegeben hatte.

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Weinerlich

Auf der Gartenbank, die er sich im vergangenen Jahr vor allem aus Holzresten gebaut hatte, liest Herr Nipp ganz gerne in der letzten Zeit. In der Coronazeit hatten seine Augen doch sehr nachgelassen, vielleicht weil er viele Stunden vor dem Bildschirm verbringen musste, um im Homeoffice zu arbeiten. Heimarbeit sagt ja niemand mehr, das klingt zu sehr nach Fertigung von einfachen technischen Produkten auf unterstem Wissens- oder Ausbildungsniveau. Heute heißt es dann eben Homeoffice – und schon hat das mehr oder weniger eintönige Arbeiten am Rechner einen irgendwie großstädtischen Klang. Das Nachlassen der Sehkraft allerdings hat eher etwas mit dem zunehmenden Alter zu tun, dessen ist er sich inzwischen durchaus bewusst. Nun war er vor kurzem auf einer Veranstaltung des örtlichen Literaturclubs, der auch nicht Club heißt. sondern etwas hochtrabend „Literarische Gesellschaft“ und musste sich als Nichtmehrleser outen, was zu allgemeinem Gemurmel führte und vor allem dazu, dass ihm von allem Seiten unglaublich viele Tipps angetragen wurden. Angefangen vom Tragen einer bequemen Brille oder wahlweise Kontaktlinsen bis hin zu Hörbüchern, wenn denn die Augen wirklich so schwach geworden seien. Nein, nein, er habe einfach derzeit keine Lust am Lesen. Na denn, dann müsse er eben interessante Bücher lesen, solche Schmöker, so dass er wieder hereinkomme. Jetzt hatte er sich also ein solches Buch schenken lassen. Er hatte sich auch noch hereinfallenlassen. Er hatte sich richtiggehend auf den Stoff eingelassen. Einen Sonnenbrand gab es gratis dazu. Und an einer Stelle waren bei ihm sogar die Tränen geflaossen, vor Rührung, vor Mitgefühl mit einer Nebenfigur. Und er hatte erkannt, warum er eigentlich nicht mehr liest: Im beginnenden Alter wird der Mensch weinerlicher und kann nicht verbergen, dass das Bewusstsein für das Vergehen der Zeit zur Trauer über die verlorene Jugend führt.

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Frage

„Du hast dich geirrt und dich darüber geärgert, kann das so gesagt werden?“ Herr Nipp sitzt bei einem Freund uns hört ihm zu, schweigend. Die Frage ist der letzte Satz in dessen neuem Roman, der demnächst veröffentlich werden soll. Aber ein Roman, der mit einer Frage endet, muss der nicht fast zwangsläufig eine Fortsetzung einfordern? Zieht nicht jede Frage nicht eine Antwort, sondern letztlich eine weitere Frage nach sich? Diese Frage turnt ihm durch die Synapsen. Ist dann nicht jede Fremdbefragung eine verkappte, sprich getarnte Selbstbefragung, nein, sogar eine Selbstinfragestellung? Er schweigt, kann nichts sagen, ein graues, ein farbiges Rauschen im Kopf, kein Weißes Rauschen, es stehen immer wieder farbige Töne daraus hervor. Nichts ist gleichwertig. Herr Nipp schaut den Freund lange an. sehr lange, und irgendwann steht er auf, nimmt seine Jacke vom Stuhl und zieht sie an. Langsam, fast behutsam. Der Freund betrachtet ihn dabei, wissend. Er verabschiedet sich. Warm und herzlich. Zwei Freunde, die sich seit Jahrzehnten kennen. Beide lächeln sich wissend an. “Ich muss jetzt allein sein. Du verstehst das.“ Nachdenken. “Sehen wir uns morgen?“

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