Weinerlich

Auf der Gartenbank, die er sich im vergangenen Jahr vor allem aus Holzresten gebaut hatte, liest Herr Nipp ganz gerne in der letzten Zeit. In der Coronazeit hatten seine Augen doch sehr nachgelassen, vielleicht weil er viele Stunden vor dem Bildschirm verbringen musste, um im Homeoffice zu arbeiten. Heimarbeit sagt ja niemand mehr, das klingt zu sehr nach Fertigung von einfachen technischen Produkten auf unterstem Wissens- oder Ausbildungsniveau. Heute heißt es dann eben Homeoffice – und schon hat das mehr oder weniger eintönige Arbeiten am Rechner einen irgendwie großstädtischen Klang. Das Nachlassen der Sehkraft allerdings hat eher etwas mit dem zunehmenden Alter zu tun, dessen ist er sich inzwischen durchaus bewusst. Nun war er vor kurzem auf einer Veranstaltung des örtlichen Literaturclubs, der auch nicht Club heißt. sondern etwas hochtrabend „Literarische Gesellschaft“ und musste sich als Nichtmehrleser outen, was zu allgemeinem Gemurmel führte und vor allem dazu, dass ihm von allem Seiten unglaublich viele Tipps angetragen wurden. Angefangen vom Tragen einer bequemen Brille oder wahlweise Kontaktlinsen bis hin zu Hörbüchern, wenn denn die Augen wirklich so schwach geworden seien. Nein, nein, er habe einfach derzeit keine Lust am Lesen. Na denn, dann müsse er eben interessante Bücher lesen, solche Schmöker, so dass er wieder hereinkomme. Jetzt hatte er sich also ein solches Buch schenken lassen. Er hatte sich auch noch hereinfallenlassen. Er hatte sich richtiggehend auf den Stoff eingelassen. Einen Sonnenbrand gab es gratis dazu. Und an einer Stelle waren bei ihm sogar die Tränen geflaossen, vor Rührung, vor Mitgefühl mit einer Nebenfigur. Und er hatte erkannt, warum er eigentlich nicht mehr liest: Im beginnenden Alter wird der Mensch weinerlicher und kann nicht verbergen, dass das Bewusstsein für das Vergehen der Zeit zur Trauer über die verlorene Jugend führt.

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