Wer schreibt bleibt

Die Pobacken schmerzen von der harten Bank. Seit vier Stunden hatte er draußen auf der Terrassenholzbank gesessen und die Zeit nicht als weiterziehend wahrgenommen. Wenn Herr Nipp liest, kann er alles um sich herum vergessen. Alles, sogar die eigene Körperlichkeit. Die Lehre aus dem aktuellen Buch Buch, in welchem unter anderem ein finnischer Same lesen und schreiben lernt ist der Gedanke, den dieser irgendwann entwickelt und der sich nach und nach festsetzt. “ Wer schreibt, der bleibt.“ Es geht nicht um den Moment, sondern um die Zukunft, vielleicht sogar Ewigkeit. Natürlich ist das eine sogenannte Binse, aber für einen Menschen, der aus seiner Kultur des Lebens, Sterbens und Vergessenwerdens herausgerissen wird, ein Akt der Bewusstwerdung. Herr Nipp bewundert, wie feinfühlig der Autor dies heraus gearbeitet hat. Aber als er jetzt aufstehen will, merkt er, dass er sich kaum noch bewegen kann und ganz lakonisch denkt er: „Wer sitzt, bleibt.“

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Horrornacht

Wenn er eines nicht ausstehen kann, dann ist es alles, was mit Horror zu tun hat, weder Filme zu fiesen Vampiren, die nachts unschuldigen Menschen, am liebsten holden Jungfrauen (Nosferatu) oder jungen Liebespaaren (Only lovers left alive) auflauern, sie vielleicht umschmeicheln, sie aber auf jeden Fall mit psychischer oder physischer Gewalt, etwa auch durch rauschende Feste ( Tanz der Vampire) gefügig machen und ihnen dann genüsslich den Lebenssaft bis zum letzten Tropfen aus den Adern saugen oder einen Rest Leben zulassen und damit neue Blutsauger erschaffen (Interview mit einem Vampir), noch Serien über Untote, die ekelerregend verfault durch die Landschaft schlurfen, wie in „The Walking dead“ und deren einziges Ziel es ist, die Lebenden zu infizieren und damit zu ihresgleichen zu machen, letztlich aber wohl dafür sorgen, dass die Erde von der Infektion namens Mensch befreit wird, Bücher über Geistererscheinungen an speziellen Orten, im Besonderen in Burgen und Schlössern oder alten Hochhäusern wie in „das kleine Gespenst“ oder „Ghost Busters“, die immer zu bestimmten Zeiten die Bewohner heimsuchen und auf fürchterlichste Art erschrecken oder sie gar in ihre Welt zu ziehen trachten, oder Hörspiele mit seltsamen tückischen Wesen, deren Formen hier kaum zu beschreiben sind wie in Perry Rodan und Alien, weil sie alle Anwesenden zutiefst verstören würden, sind einfach nicht sein Ding. Nicht zu vergessen die Höllenvisionen von Hieronymus Bosch oder all die Ausgeburten von H.R. Giger. All die Formwandler, Mischwesen, Werwölfe und Einhörner, die Sartyre, Riesentaranteln und Scheinriesen, die Drachen und erschreckenden Außerirdischen. Nein, er braucht zum Glücklichsein keine wiederkehrenden Nonnen, die aus Wänden und Grüften kriechen, keine Kellerkinder mit Jutesäcken überm Kopf, die vor Jahrhunderten dort vergessen, ermordet oder eingemauert wurden und zwei oder drei Mal im Jahr zum Leben erwachen, weil sie die lebenden Kinder, am liebsten Zwillinge, des Hauses entführen wollen. Keine Ritter ohne Kopf oder weiße Witwen, keine rasselenden Ketten und seltsame Kratzgeräusche in der Nacht. Herr Nipp mag auch grundsätzlich keine Monster, da reicht es ihm schon, sich vorzustellen, dass die jetzt noch so kleine hübsche Winkelspinne unterm Bett irgendwann die Größe einer Hand erreichen könnte und ihm nachts über das Gesicht kriecht oder jene Fliege dort an der Fensterscheibe, die da geradezu harmlos auf und ab fliegt und heraus will, ihn in den Morgenstunden, wenn der Schlaf am tiefsten ist, aufsucht und Eier ans linke Nasenloch legt, aus denen Larven schlüpfen, die sich in den Nasennebenhöhlen einnisten und dort von ihm ernähren. Schritt für Schritt zum Hirn vordringen, bis hin zum Wahnsinn. Auch fremdartige Wesen und Poltergeister sind ihm echt zuwider, die natürlich in jeden Haus zu finden sind, wenn man nachts nur lange genug wach liegt, auf jedes kleinste Geräusch hört und hinter allem das Schlimmste befürchtet. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, wie viele Gestalten mit völlig verwirrten Geistern durch die Gegend laufen, bei denen man sich nicht entscheiden kann, ob sie real sind oder nur Einbildungen, weil man selbst nächtelang nicht geschlafen hat? Sind Ihnen die kleinen Unerklärlichkeiten bewusst, wenn etwas, irgendetwas fehlt und man es nach stundenlangem Suchen wieder an der Stelle findet, die bereits zehn mal genauestens durchkämmt wurde – natürlich obenauf liegend? Oder warum man dieses Gesicht, das einem vor zehn Jahren zuletzt entgegen kam, plötzlich mehrmals an einem Tag in der Stadt auf der Hauptstraße begegnet und abends erfährst du, dass die Frau gestern verstorben ist? Oder dieser seltsame Geruch, der einige Sekunden wie ein Elefant im Raum steht, dich an ein schlimmes Ereignis erinnert und ebenso ohne Nachhall verschwindet? Alle die Gesichter, die aus einer anderen Zeit kommend in Steinen und anderen Strukturen verewigt sind? Die unmotivierten Verdichtungen im Nebel auf der Sauerlandlinie bei Lüdenscheid? Wenn man im Möhnesee beim Schwimmen von etwas gestreichelt wird, das eindeutig weder Fisch noch Seegras ist? Was ist mit den Dejavueerlebnissen? Ja, klar. Der aufgeklärte Mensch spricht von Projektionen, von Fehlschaltungen im Gehirn, die vorkommen können. Aber ist das wirklich so? Sind sie sich da sicher? Gibt es eigentlich Beweise? Was etwas ist mit den Erinnerungen, deren Wahrheit du dir bis vor Augenblicken noch sicher warst, die aber plötzlich durch neue Fakten widerlegt werden. Solche Dinge bleiben uns einige Zeit bewusst, werden dann aber schnell vergessen. Wie oft ist es uns allen nicht schon passiert, dass Stunden oder gar Tage verschwunden sind? Und ich meine hier keinen Filmriss nach Alkoholabusus. Plötzlich verändert sich unsere gewohnte Welt nur durch genaue Beobachtung. All diese Phänomene, von denen Herr Nipp einige selbst erlebt hat, stören einfach sein seelisches Gleichgewicht. Sie bringen die innere Taktung durcheinander. Niemand darf sich davor sicher fühlen, denn das Leben gründet letztlich auf dem Treibsand des Unwahrscheinlichen. Er muss sich nur an die Erlebnisse in der alten Fabrik erinnern, immer wieder war er dort auf Luftschichten getroffen, die fühlbar kälter waren. Er hatte sich nicht viel dabei gedacht und sich für taktil hypersensibel gehalten, bis er eines Tages einen älteren Freund dabei beobachtete, wie dieser plötzlich vor etwas Unsichtbaren auswich und etwas vor sich hin murmelte. Darauf angesprochen, berichtete dieser, das seien verirrte Seelen, die noch nicht verstanden haben, dass das Leben vorbei ist, nicht gefährlich, denen er jedesmal, wenn er auf sie traf, etwas Freundliches zuflüstere. Oder die Nacht, als er im Wohnzimmer vom Schatten seiner Großtante besucht wurde. Diese unfassbare Wesenheit stand nur da, sagte nichts. Keine Angst, eher das Gefühl von Vertrautheit. Ach, jeder hat solche Geschehnisse in seiner Vergangenheit gerne verdrängt. Sie bringen die festen Fundamente der eigenen Existenz ins Wanken.

Ja, horchen sie heute Nacht einfach mal in sich, beachten Sie jedes Knacken oder Wispern des Windes, das Kratzen der Rosensträucher an der Hausfassade oder das Pochen in den Rohren ihrer Heizung. Sind sie sicher, dass sie jedes Geräusch genau identifizieren können? Herr Nipp jedenfalls nicht.

Nun wurde er allerdings von einer netten jungen Dame mit Faible zu wahrer Literatur zu einer Lesung eingeladen, die gerade dieses Metier bedient und eigentlich würde er lieber fernbleiben, wissend, was dieser Abend auslösen kann; Nächte voller Albträume und nicht enden wollende Gedankenschleifen. Horror beginnt bekanntlich im Kopf, immer. Er weiß nicht, was ihn erwartet, immerhin hofft er auf gute Literatur, keinen Trash und Schund. Er hofft auf feines Gruseln in den Leerstellen zwischen den Sätzen, das erst in der Rückschau verständlich wird. Die Gruselnacht, Horrornacht gar, welche passenderweise Anfang November in einem Schloss stattfindet, soll verschiedenste Aspekte zeigen oder besser gesagt vor Ohren führen. Schon lange hatte diese Idee wohl im Raum gestanden, doch niemand konnte sich wahrscheinlich in dieser literarischen Gesellschaft zutrauen, sie tatsächlich auch zu realisieren. Junge Menschen haben mehr Mut. Glücklicherweise nimmt ihm bereits die Deko jegliche Angst, auch die Anwesenden sind ihm meist irgendwie bekannt, das kann also gar nicht so schlimm werden. Wahrscheinlich. Oder vielleicht gerade deshalb doch? Steckt der schrecken vielleicht gerade im Bekannten. Was wissen wir schon wirklich über den Nachbarn links oder rechts. Welche Abgründe tun sich da auf? Und da beginnt auch schon das Kribbeln auf der Kopfhaut. Er setzt sich zu netten Bekannten und vor Beginn verlaufen die Gespräche über dies, das und jenes gut. Eine gewisse Nervosität und Spannung lässt sich vor allem am immer mal wieder aufkommenden lauten Gelächter einzelner Personen ausmachen. Aber dann geht es los, das Licht wird herunter gedimmt, die frisch gefüllten Gläser liegen als Nothaltegriffe für bevorstehende innere Erschütterungen fest in den Händen der Gäste. Weißwein, Rotwein, manchmal Mineralwasser, zuweilen auch eine Bierflasche. Ein großes Schweigen setzt ein.

Ans Mikrophon begibt sich der erste Vorleser, ein gealterter Mann mit dunkler Kleidung und auffällig leuchtender Glatze. Sein verschlossenes Gesicht mit den dicken Augenbrauen, die fast die Augen verdecken, zeigt keine Regung. Er wartet, vielleicht auf ein Zeichen, vielleicht darauf, dass die beiden Damen da ganz hinten links endlich mit ihrem Gekicher aufhören, vielleicht auch auf eine innere Stimme, die ihm den Text diktieren wird. Er hat drei leere Blätter vor sich liegen, eine schwarz geränderte Brille auf der Nase. Langsam kommen die Worte aus seinem Mund, so als würde ihm jedes einzelne eine Qual bereiten, als habe der Text mit ihm selbst zu tun, vielleicht auch, als entstehe er gerade erst im Vorlesen. Wer weiß schon, woher solche Texte kommen und wie sie wirklich entstehen. Sind es nicht doch Einflüsterungen aus einer parallelen Welt, von Kräften, die niemand durchschauen kann? Ist nicht jede Gruselgeschichte eine Einflüsterung, die nicht zu steuern ist? Wissen wir nicht alle insgeheim, dass es verschiedene Realitäten gibt, Welten, die sich berühren oder überschneiden? Er blickt beim unsicheren Hüsteln eines Zuhörers auf, fixiert diesen nicht gerade wohlwollend, macht eine vorwurfsvolle Pause, wie kann dieser Kunsthuster es wagen, die Konzentration zu stören,

liest irgendwann weiter.

Herr Nipp ist verunsichert, geradezu schockiert, der Mann da vorne sieht ihm selbst zum Verwechseln ähnlich, nein, er ist eher ein Zwillingsbruder in seiner Art sich zu bewegen, zu kleiden, zu sprechen. Seine Augen sind die seinen, das Runzeln der Stirn und wie er die rechte Augenbraue hebt. Er spürt etwas in sich aufsteigen, das er nicht erklären kann. Nach und nach scheint dieser Mann da vorne Macht über ihn auszuüben und langsam zu gewinnen. Eine geistige Verschmelzung setzt ein. Sie werden eins und rauschen verschlungen, doch letztlich aneinander vorbei. Ein Ringen, das von außen nicht wahrzunehmen ist. Er hat irgendwann mal gelesen, dass es so etwas wirklich geben kann, Geistverschmelzung. Die beiden sehen sich, ihr Innerstes, jeden Gedanken, jedes Gefühl, ja, jede Erinnerung und sei sie auch noch so peinlich. Herr Nipp erschaudert bei dem schwarzen Abgrund, der sich vor ihm auftut. Er hat in die düstere Seele geblickt. Jetzt weiß er, warum manche Menschen sagen, dass sie den Kaffee schwarz wie die Seele trinken. Was hat dieser fremde Mann mit ihm gemacht? Und plötzlich sitzt er selbst am Mikrophon, nicht wissend, wie er dorthin gekommen sein könnte und muss feststellen, dass die Worte tatsächlich gerade erst auf dem Blatt entstehen, er übernimmt das Lesen, wie selbstverständlich, begreift, dass dies nicht sein darf und er schaut verstört ins Publikum. Fragend, lang. schaut den Zuhörern ins Gesicht, da ist etwas passiert mit denen da vor ihm…

Und dann steht ein Mann im Publikum auf, der ebenfalls er zu sein scheint, und geht.

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bei geschlossenen Läden

Morgens wartet er zu Zeit, bis alle aufgewacht sind, ab. Er hat mit Freunden ein Ferienhaus angemietet und diese haben die Gewohnheit, wesentlich länger zu schlafen, als er es gewohnt ist. Wenn Herr Nipp inzwischen gegen sieben erst aufwacht, kann das wohl schon als echt gemeintes Entgegenkommen gewertet werden. Die anderen aber ziehen es vor, die Augen erst gegen neun oder halb zehn zu öffnen und dann noch eine Weile liegen zu bleiben. „Es ist so gemütlich im Bett.“ Diese Zwischenzeit nutzt er zum Lesen. Er hat sich für die Woche Urlaub zwei Bücher mit etwa tausend Seiten mitgenommen, einen historischen Roman von Michael Niemi und einen völlig abgedrehten Cyberpunk- Thriller von Terry Miles. Beides sogenannte Schmöker, heute sagt man wohl Pageturner, das andere Wort ist in unsere hyperhippen Zeit zu altmodisch oder für den jungen Leser verständlicher zu oldschool. Leider sind die inzwischen ausgelesen und jetzt sitzt er eben am Fußende des Bettes und schreibt. Nur die Fensterläden öffnet er nicht, obwohl draußen die Sonne scheint, denn die quietschen furchtbar und wahrscheinlich würde er alle wecken.

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durch ein anderes Land

Hinten auf der Sitzbank eine ganze Fahrt zu verbringen, ist ihm selten vorgekommen. Meist sitzt Herr Nipp vorne und steuert das Gefährt, ganz einfach weil er gerne lange Strecken fährt. Diese Mal aber ist es nicht sein Auto, er sitzt eben hinten und genießt die vorbei rauschenden Landschaften, die Veränderungen der Strukturen, die anderen Möglichkeiten der Gestaltung. Er ist gerne in jenem anderen Land, auch wenn er dort nicht leben möchte. Aber für einige Tage oder Wochen ist Italien immer eine Reise wert.

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Nipps Katze

Es ist nicht sein Tier, es kommt zu Besuch. Die Katze hat eine Musterung, die zwischen den europäschen Kurzhaarkatzen auffällt, wie ein Leopard oder eine andere Großkatze, mit vielen dunklen Flecken auf braunem Grund. Sie vokalisiert viel, eigentlich immer sofort, wenn sie kommt. Sie ist freundlich fordernd, möchte gestreichelt werden und legt sich dazu gerne auf den Schoß und schnurrt. Gerne liegt sie eingerollt in der Nähe des Kaminofens in einem Korb. Nein, sie kann nicht reden, sie wird auch in keiner Weise mitteilen können, was sie erlebt hat. Herr Nipp macht sich zwar machmal Notizen, aber er weiß, dass es sich meistens um Vermutungen handelt. Er hörte von einer anderen Katze, gar nicht weit entfernt, die sich regelmäßig mit einem Schmied unterhält, der sogar ein ganzes Buch gewidmet ist. Eigentlich schade, denkt er manchmal, dass meine Katze, die eigentlich einer Nachbarsfamilie gehört, nicht auch sprechen kann, aber auch wieder gut, was weiß er denn, was sie alles an unangenehmen Dingen zu erzählen hätte.

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