Dunkler Weg

Dunkelheit war über ihn gekommen, hatte alles Denken eingenommen. Nur noch ganz verschwommen konnte er die Realität wahrnehmen. Eigentlich war das Problem seine täglich zunehmende Nachtblindheit. Immer war es diese Unfähigkeit im Dunklen zu sehen, die ihm Probleme bereitete. Früher war er doch immer derjenige gewesen, der beim geringsten Restlicht alles sehen konnte. Aber auch hier zeigte sich seit einiger Zeit, dass eben diese an ihm nicht spurlos vorüber gezogen war. Nicht nur diese Faltenlandschaft, die sich euphemistisch Gesicht nannte, nicht nur seine wenig jugendliche Körperhaltung und die ganzen kleinen Gebrechlein, auch die Wahrnehmung begann nun langsam ihr Alter zu zeigen. Seine Freunde hatten in der letzten Zeit häufiger einmal schlechte Scherze darüber gemacht, was doch eigentlich seine Profession sein sollte. Schlechte Scherze über schlechten Sehen. Schlechte Scherze über schlechtes Hören. Er sah also so gut wie nichts mehr, nachts, inzwischen hatte sich Herr Nipp neben dem ständigen Klappmesser, das er in der Messertasche rechts in der Hose mit sich führte auch eine lichtstarke Taschenlampe zugelegt. Nun aber waren wohl die Batterien leer, nein, er hatte sie abgelegt, stimmt ja, und plötzlich musste er sich auf all die anderen Sinne verlassen, welche ihm die Natur nun einmal mitgegeben hatte. Hören und Haptik, Gleichgewicht, glücklicherweise nicht Geruch und Geschmack. Er tastete sich langsam vorwärts, den nächsten Schritt genau abwägend, ob er vielleicht in weiches Material trete oder rutschiges oder über unsicheres Gelände gehe. Er tastete sich an der Wand links entlang und kam wider Erwarten zügig voran, lediglich die Fingerkuppen schienen ihm rissig zu werden. Als er am Ziel war, machte der Übungsleiter das Licht in der Halle an. Herr Nipp musste nun erkennen, dass der von ihm gewählte Weg in einer Höhe von knapp zwei Metern mit rund dreißig Zentimetern Breite an der Wand entlang geführt hatte. Niemals hätte er diesen im Hellen beschritten.

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Schreiben

Vielleicht, denkt er, vielleicht sind die am Handy geschriebenen Texte die schlimmsten. Und in diesem Moment setzt ihm die Autokorrektur ein Wort dahin, das er gar nicht wollen.

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Drei oder vier

Als kleiner Junge hatte er sich immer gewünscht mitzusingen. Er wollte mit den heiligen drei Königen durch die Lande laufen und das Lied in die Wohnungen schmettern, „Halleluja“, er wollte dafür Schokolade einkassieren, viel Schokolade und alle möglichen anderen Süßigkeiten natürlich auch und leckeres Obst, Orangen, Äpfel und manchmal vielleicht auch einen Groschen zugesteckt bekommen. Man kann sich gar nicht vorstellen, wieviele Schnuckelsachen so kurz nach Weihnachten in den Schränken nur darauf warten, dass endlich jemand kommt, um sie gierig zu essen. Irgendwann war es dann so weit, im Jahr nach der Kommunion. Er durfte mit drei anderen Jungs (zwei weitere Könige und einem Sternträger „Seht ihr unsern Stern dort stehen? Helles licht in dunkler Nacht, Hoffnung auf ein neues Leben hat er in die Welt gebracht.“) in einem vorher festgelegten Gebiet dieser Kleinstadt singen gehen, sie sangen aus voller Kehle, sicher auch manches Mal schief, aber sie machten dabei vielen Menschen Freude, schufen Erinnerungen an eine andere Zeit. Auch das ist wichtig. Seine Mutter hatte ihm das Gesicht mit einem Korken geschwärzt, er fühlte sich hinter dieser schwarzen Maske sicher und war so stolz, den afrikanischen König spielen zu dürfen. Er wäre wirklich gerne ein afrikanischer König gewesen. Letztens hat Herr Nipp ein Bild davon gefunden, ein Foto, das sein Vater in der Diele gemacht hatte. Vier Jungs voller Tatendrang, nicht gerade die besten Freunde, aber für diese Aufgabe genau die richtigen, niemand damals hätte im Blackfacing, wie es heute wohl genannt wird, etwas Böses gesehen. Vielmehr ging es darum, zu zeigen, dass vielfältige Menschen, mächtige Menschen aus der ganzen Welt die ersten waren, die dem Herrn, dem winzigen Jesuskind in der Krippe huldigen. Aus heutiger Sicht natürlich ein völliges Unding. wie kann sich ein Weißer nur anmaßen, so zu tun, als sei er ein Schwarzer! Wie konnte so etwas nur sein? Inzwischen sind rund vierzig Jahre vergangen, Jahre, die viel verändert haben, aber ist das Anliegen denn so falsch gewesen? Ist der kindliche Wunsch am Verkleiden falsch gewesen, das Gefühl, einmal König zu sein? Oder anders gefragt: Ging es ihm in irgendeiner Weise darum, irgendeinen farbigen Menschen lächerlich zu machen?

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Würdevoll

Seit Minuten schon,vielleicht sogar einer viertel Stunde starrt er in die Landschaft. Vor ihm eine Industriebrache, die vielleicht demnächst renaturiert werden wird, vielleicht auch so erhalten bleibt, wie sie ist, wer weiß das schon. Er hat vergessen.sich zu bewegen,alles unwichtig. Die Bilder ziehen vorbei. Großes Kino des Lebens. Den Hirsch bemerkt er erst, als der fast ohne Scheu vor ihm steht. Und was sollte ich jetzt tun? Er bleibt da sitzen,der Hirsch zieht seines Weges, fast ist es ihm, als habe der gute alte Geweihträger ihm würdevoll zugenickt. Am nächsten Tag wird er sich selbst kaum glauben,dass es wirklich so war.

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1. Axiom

Hatte nicht Paul Watzlawick in seinem ersten Axiom der Kommunikation darauf verwiesen, dass jeder nicht nicht kommunizieren können? Das scheint die Dame, die ihm gegenüber im Wartezimmer sitzt, nicht zu wissen. Arme vor sich verschlungen, Augen geschlossen, scheint sie von der Welt um sie herum nichts mit zu bekommen. Herr Nipp fragt ganz ungerührt: „Was wollen Sie uns eigentlich mit ihrer Körperhaltung sagen?“ Und plötzlich wirken alle dort gelöst und lachen.

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