Dunkler Weg

Dunkelheit war über ihn gekommen, hatte alles Denken eingenommen. Nur noch ganz verschwommen konnte er die Realität wahrnehmen. Eigentlich war das Problem seine täglich zunehmende Nachtblindheit. Immer war es diese Unfähigkeit im Dunklen zu sehen, die ihm Probleme bereitete. Früher war er doch immer derjenige gewesen, der beim geringsten Restlicht alles sehen konnte. Aber auch hier zeigte sich seit einiger Zeit, dass eben diese an ihm nicht spurlos vorüber gezogen war. Nicht nur diese Faltenlandschaft, die sich euphemistisch Gesicht nannte, nicht nur seine wenig jugendliche Körperhaltung und die ganzen kleinen Gebrechlein, auch die Wahrnehmung begann nun langsam ihr Alter zu zeigen. Seine Freunde hatten in der letzten Zeit häufiger einmal schlechte Scherze darüber gemacht, was doch eigentlich seine Profession sein sollte. Schlechte Scherze über schlechten Sehen. Schlechte Scherze über schlechtes Hören. Er sah also so gut wie nichts mehr, nachts, inzwischen hatte sich Herr Nipp neben dem ständigen Klappmesser, das er in der Messertasche rechts in der Hose mit sich führte auch eine lichtstarke Taschenlampe zugelegt. Nun aber waren wohl die Batterien leer, nein, er hatte sie abgelegt, stimmt ja, und plötzlich musste er sich auf all die anderen Sinne verlassen, welche ihm die Natur nun einmal mitgegeben hatte. Hören und Haptik, Gleichgewicht, glücklicherweise nicht Geruch und Geschmack. Er tastete sich langsam vorwärts, den nächsten Schritt genau abwägend, ob er vielleicht in weiches Material trete oder rutschiges oder über unsicheres Gelände gehe. Er tastete sich an der Wand links entlang und kam wider Erwarten zügig voran, lediglich die Fingerkuppen schienen ihm rissig zu werden. Als er am Ziel war, machte der Übungsleiter das Licht in der Halle an. Herr Nipp musste nun erkennen, dass der von ihm gewählte Weg in einer Höhe von knapp zwei Metern mit rund dreißig Zentimetern Breite an der Wand entlang geführt hatte. Niemals hätte er diesen im Hellen beschritten.

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