Eins vierundzwanzig

Die wahren Wettrennen sind die gegen den inneren Schweinehund. Trotz des lausigen Wetters hatte sich Herr Nipp früh morgens zurecht gemacht, hatte die halbhohen Wanderschuhe angezogen und den leichten Rucksack gepackt. Eine Flasche Mineralwasser sollte reichen, man konnte ja problemlos an der Strecke in den verschiedenen Quellen nachfüllen. Zwischendurch würde er an den Almtränken seinen Durst stillen. Im Tierser Tal kann man das noch heute ganz ohne schlechtes Gewissen machen. Es gibt dort dem Spruch, dass das Wasser sauber ist, wenn es über zehn Steine gelaufen ist. Solange das kühle Nass aus dem Fels kommt, ist es nicht nur trinkbar, sondern schmeckt meist auch noch ausgezeichnet. Sei es nun, weil die Quelle durch mineralreiches Gestein führt, vielleicht eisenhaltig, vielleicht auch durch andere geschmacksintensive Spurenelemente bereichert. Herr Nipp wollte an diesem Morgen seinen eigenen und gegenüber Anderen verschwiegenen Rekord brechen. Manche Rekorde dürfen nicht ausposaunt werden, sie erhalten  ihren Wert ja gerade dadurch, dass man nur selbst darüber weiß. Das sind Geheimnisse, reinste Perlen der persönlichen Reifung. Eine bestimmte Tour sollte unter anderthalb Stunden dauern. Gewalttour dann. Angegeben war sie mit dreieinhalb Stunden. So etwas lässt sich nur allein bewerkstelligen, wenn man auf niemand Anderen Rücksicht zu nehmen braucht. Seine Mitreisenden wollten sowieso an diesem Tag zu Hause bleiben und verschnaufen. Im Fernsehen die Übertragungen wichtiger Sportveranstaltungen nicht verpassen. Sie würden sich dem absoluten medialen Overkill hingeben, über Stunden hinweg Spiele sehen und darüber fachsimpeln und zwischendurch hunderte von Werbespots. Neben den vielen neuen Autos, Joghurts und modernsten technischen Produkten wurden dann neue Serien und Filme angepriesen, als sei jedes für sich der reinste, allerheiligste und vor allem exklusivste Glücks- und Heilsbringer.

Die ersten Meter, Schritte nach dem Losgehen sind immer die schwierigsten. Zu schnell lässt man sich von der prächtigen und vor allem üppigen Flora und Fauna an den Wegrändern ablenken. Hier muss nicht näher beschrieben werden, was Herr Nipp so alles sah. Es reicht wohl anzudeuten, dass die Segelfalter und Schwalbenschwänze die auffälligsten Tiere darstellten, neben zig anderen Schmetterlingen. Irgendwer hatte ihm vor Jahren erzählt, oder er hatte es in der „Sendung mit der Maus“ gesehen, dass der Name von Schmetter, das heißt Sahne, komme, weil einige Arten so gerne auf frisch geschlagener Sahne saßen und sich dort satt tranken.

Bei der ersten richtigen Steigung besann er sich aber auf sein Ziel. Der Blick wurde konzentrierter auf den Weg gerichtet. Jeder unbedachte Schritt konnte bei dem gegangenen Tempo zum Straucheln führen. Jede Nachlässigkeit in der Aufmerksamkeit, die auf einem normalen Weg nicht weiter auffällt, konnte hier unverzeihlich sein, zu einem Sturz führen. Und damit ist jetzt nicht das einfache Aufsuchen des Wegebelags gemeint, sondern der Sturz den Abhang neben dem Weg hinunter. Einmal in seiner Kindheit, beim Erklimmen des Hundshorns in den Loferer Alpen hatte er die Erfahrung gemacht, was es hieß, unerwartet einige zehn Meter über Stein und Schotter talabwärts zu rutschen. Das konnte nun wirklich niemand gebrauchen. Die aufgeschürften Stellen waren noch wochenlang nicht richtig verheilt, weil sich kleine Steinchen tief unter die Haut gedrückt hatten. Dreckkrümel waren eingedrungen. Auf solche weiteren Erfahrungen wollte er auch in Zukunft lieber verzichten. Immerhin waren die restlichen Spuren dieses mehr als dreißig Jahre zurück liegenden Ereignisse noch bis heute sichtbar.

 

Die ersten tausend Schritte waren auf solchen Touren immer wichtig und nötig, um die Atmung zu optimieren. Der Takt von Schritt und Atmung muss feinjustiert werden. Ein Schritt, ein zweiter –  einatmen, dann drei vier weitere – ausatmen. Bis der Rhythmus stimmt, über Stunden hinweg gehalten werden kann. Wie bei Rock- und Popmusik gibt es den Hauptrhythmus der Atmung und den Zwischenrhythmus der Schritte. So wird aus einer Wanderung eine Komposition, eine Sinfonie. Grundsätzlich ist es natürlich dabei ein großer Unterschied, ob man sich in 1500 oder in 2700 Höhenmetern befindet. Dann muss ganz anders mit dem Sauerstoff gehaushaltet werden. Auch wenn einige Menschen darüber lächeln mögen, Raucher wie Herr Nipp merken dies.

Einige Wanderer kamen ihm entgegen, sie hatten das Grollen einer heranziehenden Gewitterfront gehört und sich einschüchtern lassen. Die ersten Tröpfchen ließen sich fast unschuldig auf den Boden fallen. Gab es nicht ein Kinderbuch mit sieben Regentropfen, die sich so geschickt fallen lassen, dass die Getroffenen glauben müssen, es würde anfangen zu regnen? Herr Nipp konnte sich aber einfach nicht an den Titel des Buches erinnern, wusste auch nicht, ob er es als Kind zu lesen bekommen oder im Zivildienst anderen Kindern nahe gebracht hatte. Damals als er in den ersten Wochen noch die sogenannte pädagogische Betreuung übernehmen durfte. Später hatte er dann fast wie zur Strafe in der Großküche hinter der Fließbandspülmaschine gestanden und die sauberen, heißen Teller stapeln dürfen. Immer die Hitze, ob es nun draußen kalt oder warm war, er stand im heißen Wasserdampf und konnte ich dreimal am Tag umziehen und duschen.

Tapfer schritt er voran, er wollte, würde es schaffen. Schon nach 52 minuten hatte er das Ziel erreicht, viele überholt. Auf jeden Fall ein neuer Rekord, der lange Bestand haben würde. Nicht zu unterschätzen. Doch dann begann es tatsächlich dauerhaft zu grollen und die Tropfen wurden dicker und häufiger. Ohne Einkehr im Dauerlauf den Berg hinab. Alle, die er auf dem Hinweg locker überholt hatte, sahen ihm erstaunt entgegen. Ankunft im Domizil nach einer Stunde und 24 Minuten. Der Lohn, kein Lob oder Erstaunen von anderen, einfach ein gutes Gefühl, etwas geschafft zu haben und eine viertelstündige Dusche. Den nächsten Tag würde er wegen des Muskelkaters nicht eine Treppenstufe ohne Schmerzen gehen können.

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