Unwetter

Er hatte eine Zeit lang auf einer ehemaligen Alm pausiert, die Augen geschlossen, wie er es eben gerne macht. Seine Gedanken waren in Tagträumereien übergegangen. Worte und Geräusche aus der Nachbarschaft gingen eine innig symbiotische Verbindung mit den eigenen Gedanken ein. Ohne Barrieren.

Vor Jahrzehnten hatte es mal ein sogenanntes „Lustiges Taschenbuch“  über Donald Duck gegeben. Der hatte, wie man es von ihm kennt, faul auf dem Sofa gelegen oder im Sessel gesessen, so genau wusste Herr Nipp dies nun nicht mehr. Die Zeit lässt die Erinnerungen verblassen oder verschiebt ihre Realität. Erinnerung ist ein aktiver Prozess, der die Vergangenheit immer wieder in neue Zusammenhänge bringt und diese damit verändert. Irgendwelche Wortfetzen aus der Nachbarschaft oder von seinen Neffen wurden im Halbschlaf immer wieder zur Grundlage wilder Traumgeschichten. Ausgangspunkte in solchen Situationen können sich von einzelnen Tönen herleiten, aber auch aus dem Zusammenhang gerissenen Wörtern oder Halbsätzen. So auch hier, wenn auch Herr Nipp etwas stärker in der Realität verankert war. Schließlich konnte er mit Fug und Recht von sich behaupten, keine Comicfigur zu sein, sondern ein echter Mensch, mit Macken und Kanten. Ein Mann, der zwar nicht immer wusste, wo es lang geht, aber schließlich den Weg doch irgendwie zum Ziel ging – und sei es auf Irrwegen.

Irgendwann spürte er erste leichte Regentropfen auf der von der Anstrengung des Aufstiegs glänzenden Gesichtshaut. Er packte die wenigen Sachen in den Rucksack und schloss die Augen nur kurz abermals. Wartete etwas. Im Wissen, dass das Wetter in den Dolomiten sehr schnell umschlagen kann, vertraute er auf das Beste. Die anderen Wanderer verfielen, wie zu erwarten war, in Hektik. In panische Hektik. Sie packten ihre standesgemäß roten und quietschig blauen Regenüberwürfe aus den großdimensionierten Rückentaschen. Warfen sich in Schale. Dann stürmten sie in fast panischer Manie talabwärts. Die Befürchtung, es würde hierbei zu üblen Rempeleien kommen, bestätigte sich allerdings nicht. Trotz aller Eile gilt in den Bergen das Gesetz der Rücksicht auf andere noch immer.

Diese Wanderscharen, wetterumtoste Völker, die sommers die Alpen überfluten und mit ihren Blechlawinen in den Tälern zeitweilig alle Bewegung zum Ersticken bringen, sind doch umsichtiger als mancher Strandtourist, der, sich als Ölsardine fühlend, schon mal die Kinder der Nachbarfamilie versehentlich beim Drehen von der Rückenlage auf den Bauch unter sich zerquetscht. Wenn er das Missgeschick bemerkt, wird er sich wahrscheinlich aufraffen, sich in die lauen, bräunlichen Fluten stürzen und dort einige Minuten abkühlen. Wenn er dann wiederkommt, die inzwischen angesammelte Menschenmenge sieht, wird er ganz verwundert fragen, was denn passiert ist. Herr Nipp hatte einmal eine Statistik gelesen, in welcher zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass mehr Menschen beim Badeurlaub sterben (und hier wurden lediglich die Ertrunkenen, nicht aber die Zerquetschten aufgeführt), als in den Bergen. Selbst die gefährlichste alpine Route ist in diesem Sinne gegen das Liegen am Strand der reinste Spaziergang.
Nach wenigen Minuten hatte sich die Szenerie geleert, Herr Nipp war alleine auf der Ex-Alm zurück geblieben. Er packte ganz ruhig ein Vinschgauer Brötchen, eine Kaminwurz und die Flasche mit dem Quellwasser aus und begann sein einfaches, einfach leckeres Mittagsmahl. Eine halben Stunde später nahm er den Rucksack auf und trottete gemächlichen Schrittes bergab. Tatsächlich hatte das Wetter wieder auf Sonne gedreht, die Wolken sich innerhalb weniger Minuten verzogen. Die anderen Wanderer vergruben ihre Umhänge verschämt wieder in den Tiefen ihrer Hochgebirgsrucksäcke. In den Nachrichten würden sie erfahren, dass es dort oben über 2600 Meter auch tatsächlich ernsthafte Gewitter gegeben habe, aber davon waren sie über 600 Höhenmeter entfernt. Sie würden in ein oder zwei Jahren noch von diesem ungeheuerlichen Unwetter berichten, dem sie so knapp entkommen waren.

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