Texte schreiben

Manchmal, ganz selten, so zwei drei mal pro Jahr, um genau zu sein, macht auch Herr Nipp mal kurze Fortbildungen. Einige sollen seinem beruflichen Werdegang Unterstüzung bieten, die meisten sieht er allerdings als Privatvergnügen an. Etwa Theaterworkshops mit durchaus bekannten Schauspielern, die er auch schon einmal im Theater erlebt hatte oder letztens die Schreibwerkstatt mit einer ihm bis dahin völlig unbekannten Bestsellerautorin, manchmal lässt er sich allerdings auch Pflanzengemeinschaften erläutern oder im Herbst auch schon mal Pilze.
Die Autorin jedenfalls hat sein Weltbild ein Stück weit erschüttert. Am ersten Tag hat sie doch tatsächlich nicht mit den Ausbildungswilligen geschrieben, sondern einige markante Texte der Weltliteratur zerlegt, so in etwa, wie Jäger in aller Sorgsamkeit ein erlegtes Stück Wild zerwirken oder so, wie es Lehrer in der Oberstufe machen, wenn sie denn Ahnung davon haben. Sie haben dann herausgearbeitet, auf was man alles so zu achten hat, wenn denn dann ein Text wirklich verfasst werden soll. Ihm klingelten schon fast die Ohren als die Autorin auch in der doch so offensichtlich belanglosesten Wortkombination noch Stilelemente ausmachte. Alles hatte einen Namen bei ihr, man kann sie kaum wiedergeben, wirken sie doch fast schon selbst wie ein Gedicht in einer seltsamen Fremdsprache:

Zeugma, Vergleich, Synästhesie, Symbol und die Parataxe
Aktiv, passiv, Vorgangspassiv, Zustandspassiv und die Hypotaxe
indirekte Fragesätze
Gliedsätze – Nebensätze
Attribute – Komparativsätze – Subjektsätze – Objektsätze
Kausalsätze – Konditionalsätze – Konsekutivsätze – Finalsätze
Modal und Adverbialsätze, Komparativsätze und Lokalsätze
Adverbiale und Adjektivattribute
Genitivattribute und präpositionale Attribute
direkte und indirekte Rede
Indikativ und Konjunktiv, aber Imperativ für jede
Personalform, Tempusform und Handlungsart
Infinite Verbformen, Zitate und Gegenwart
Rhetorische Frage und Personifikation
Anapher und Alliteration, Ellipse und Ellision
….

Und dann erklärte sie, dass jede Geschichte immer vier Elemente berücksichtigen müsse, nämlich Figuren, Handlung, Zeit und Ort. Und damit gehe er Zirkus erst richtig los, schließlich müsse all das auch noch sinnvoll zusammengebracht werden. Und mit Zeit sei eben nicht gemeint, dass man wisse, wann etwas geschehe, sondern auch um die Beziehung zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit, um Stauchung, Deckung und Dehnung, natürlich auch darum, welche der sechs Zeitformen wann zu verwenden sei. Und man müsse auf jeden Fall beachten, dass die Figurencharakterisierung nicht nur über die Personendarstellung an sich, sondern auch durch deren Handlung und zum Beispiel die Beschreibung des Wohn- oder Lebensumfeldes geschehe. Und zu bedenken sei auch, dass selbst der Erzähler so etwas wie eine Figur sei, auch wenn dieser nicht aktiv thematisiert werde. So viele Dinge auf die zu achten ein guter Schriftsteller sich anschicken sollte. Am zweiten Tag des Onlinekurses war nur noch die Hälfte der Angemeldeten da. Einigen war das wohl alles zu hoch gewesen. Nun ging es von kleinen Übungen bis hin zu einem längeren Versuch. Als Herr Nipp ganz stolz seinen mehrseitigen Text vorlas, wurde dieser erbarmungslos zerpflückt, das war durchaus zermürbend. Immerhin war nach der eingehenden Kritik der zweite Versuch wirklich gelungen. Er hatte seine Erzählung auf das Nötigste reduziert und war dabei einem Theaterstück, einer Tragödie nämlich, vielleicht auch einem bürgerlichen Trauerspiel, schon sehr nahe gekommen, ein wahres Dramulett:

„Ich gehe jetzt!“, sagte der Mann – resigniert die Tür öffnend. „Mach das!“

Die Dozentin war begeistert und musste für ihre Kritik Vergleiche bemühen, die ihm schon fast peinlich waren, aber mit Kafka wegen des nahezu parabelhaften Charakters, mit Brecht wegen der Lakonik und mit Kleist bezüglich des Bindestriches verglichen zu werden, fand er dann doch ganz angemessen.

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