Augen

Während er da sitzt, sich eigene Gedanken macht und die Augen über das Tal schweifen lässt, leuchtet die Sonne, lässt die Zweige der Birken violett erstrahlen und die Schatten ins Blau abgleiten. Dann muss er sich an Adalbert Stifters Naturschilderungen erinnern, wenn dieser biedermeierliche Autor bis ins Feinste beschreibt, welche farblichen Wirkungen verschiedenste Konstellationen haben, auch dieser spricht von blauen Schatten, lange bevor dies die Impressionisten für ihre dahingehauchten und getupften Bilder entdecken. Kein Schatten wandert grau gegen das Licht, sondern wird von ihm als Spiegelung des Himmels erzeugt. Herr Nipp liebt solche Tage, an denen er gar nicht zu tun hat und fernab von allem sehen und beobachten kann, ohne den Druck im Nacken zu spüren, dass jemand etwas von ihm will. Zeit ist sein größter Luxus und der muss genossen werden. Eine Selbstverständlichkeit von Luxus aber führt zur Gewöhnung und damit Entwertung. Während er also da sitzt und dieses Geschenk genießt, bemerkt er mit einem Mal, dass er angestarrt wird, offenbar schon seit längerer Zeit, denn die Bewegung, die ihm dies offenbart, ist minimal. Aus einem wunderschönen Gesicht schaut ihn ein Mäuschen an und die kugelrunden Augen lassen ihn an ein Mädchen denken, das er einmal gekannt hat, das aber für ihn natürlich niemals erreichbar war. Man kann ja nicht gerade behaupten, dass Herr Nipp in irgendeiner Form auffällig war. Kürzlich hat er sie wieder gesehen, inzwischen eine Frau mittleren Alters, gefühlt hatte sie inzwischen einige Jahre länger gelebt als er, mit einem mürrischen und lebensverneinenden Blick und er konnte nicht verstehen, was er damals an ihr gefunden hatte. Vielleicht waren es damals tatsächlich nur diese wunderschönen Augen, die dunkel strahlten. Vanitas vanitatem.

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