tageweise

Es gibt Tage, die man erduldet, die aber nicht weiter aufregen, Tage, die sollten einfach von Beginn an übersprungen werden, dachte er sich, als er diesen hinter sich gebracht hatte. Und es gibt Tage, die es gar nicht geben dürfte.
Geplagt von seinen höllischen Anfällen, die immer wieder in Schüben gekommen waren, hatte er kaum einmal für eine halbe Stunde schlafen können und war in der Wohnung umhergeirrt wie ein Irrer. Wahrscheinlich zum absoluten Verdruss seiner Untermieter, die solche Nächte häufiger mitbekamen oder zumindest mitbekommen mussten. Entweder war es oben laut, weil er herumschlich und im halbmüden Zustand diverse Sachen umstürzte, oder auch mal im Stolpern ein Bild von den Wänden riss, er irgendeinen schwachsinnigen Film mit unglaublicher Lautstärke guckte, am liebsten irgendwelchen Marvelsuperheldenmist, oder aber sie vernahmen den Rhythmus, das gelegentliche Quietschen des Bettes, wenn nächtens zuweilen eine Dame zu Besuch war. Das Eine wie das Andere musste eigentlich nicht allzu angenehm sein und er wunderte sich schon, warum die da unten immer noch nicht ausgezogen waren, also aus dem Haus wohlgemerkt. Das sprach entweder von einem unglaublich Stoizismus, von massiver Gleichgültigkeit oder aber,  und das glaubte er eigentlich am häufigsten, dass sie ihre Hörgeräte nachts ausschalteten und wirklich nichts mitbekamen. Dabei stand die Frau des Mieters morgens gerne abwartend im Türrahmen und blickte ihn mit vorwurfsvollem oder fragendem Blick an. Vorwurfsvoll nach Nächten mit Damenbesuch, fragend nach Nächten mit Gepolter, allerdings verächtlich, wenn er wieder einen dieser völlig blödsinnigen Popcornkinofilme geguckt hatte. So genau war das aber andererseits auch wirklich nicht zu unterscheiden. Zuweilen wechselte dieser Blick auch innerhalb weniger Sekunden zu einem feisten Grinsen, dann nämlich, wenn er tatsächlich humpelte oder gar Schrammen im Gesicht hatte. Der Mensch kann gehässig sein, vor allem aber dann, wenn die Nachtruhe gestört wurde.
Dieser Tag aber sollte genauso beginnen, wie es niemand braucht. Kaum hatte er sein linkes Bein aus der wohligen Wärme des Bettes in Richtung des kalten Bodens ausgestreckt, trat er in eine unglücklich dort liegende Walnussschale. (Wer dieses Gefühl noch nie erlebt hat, weiß nicht, wovon hier die Rede sein könnte. Versuchen Sie es doch einfach mal. Knacken Sie sich eine Nuss, lassen die Schalen auf den Boden fallen und dort, ja dort auf dem Boden auch liegen. Am besten ist es, wenn die Schalen sich an einer Position befinden, die mitten in den Laufwegen liegt. Dann nachts darauf zu treten, ist eine helle Freude, aber nur für die andere, die so etwas beobachten würden.)
Damit nicht genug, auf dem Weg zur Toilette, den er hinkend wie blutend überwand, er suchte schließlich nach einer Pinzette, um sich den tief sitzenden Splitter halbfachmännisch zu entfernen, und einem Heftpflaster, blieb er mit dem rechten kleinen Zeh am Türrahmen hängen. Mit viel Anstrengung konnte er den Schrei, der sich unweigerlich in seiner Kehle fast schon geformt hatte, gerade noch verkneifen. Nicht aber die Tränen, die sofort wie auf Kommando aus den Augen liefen. Er fühlte sich wie ein Mädchen, dabei halten die angeblich viel stärkere Schmerzen aus, da wo Jungen schon lange heulend und keifend um sich schlagen.
Dabei hatte die Nacht doch wirklich schön begonnen, gestern, als er lesend im Bett lag und per SMS eine mit halberotischen Anspielungen gespickte Konversation mit einer attraktiven Frau führte. Aber bereits kurz nach dem Einschlafen irgendwann hatte sein Kopfschmerz zugeschlagen, ein fieses Stechen halbseitig mit immerhin beeindruckenden Farbexplosionen und wahnsinnig coolen Soundeffekten, was an dieser Stelle für ihn eine ganz neue Erfahrung war.
Im Badezimmer verarztete er sich notdürftig, stellte sich aus alter Gewohnheit auf die Waage, schaute aber versehentlich einfach mal hin. Das hätte ihm schon den Rest geben können. Andere Männer hätten an dieser Stelle wahrscheinlich echte Selbstmordgedanken gehabt, sie hätten sich vielleicht auch das nächste Messer geschnappt, um ein Stück Schwarte abzutrennen, er aber sollte sich auf den Weg zur Küche machen, ein auf dem Schrank stehendes Glas mit Milch umwerfen und sich fast schon gleichgültig ob dieses Starts ganz ruhig den dringend benötigten Frühstückskaffee kochen. Dass er sich dabei die linke Hand verbrannte, wäre eigentlich vorauszusehen gewesen. Mit Blick auf die Uhr sollte er feststellen, dass er wohl verschlafen hatte und jetzt schon zu spät kommen musste. Also in Hektik zum Auto laufen, das natürlich bei diesem feuchtkalten Wetter nicht anspringen sollte und letztlich tatsächlich viel zu spät zur Arbeit kommen.
Ein wirklich schlechter Tag voller stinklangweiliger Arbeit und unerträglichen Mitarbeitern sollte folgen, eingezwängt in Konventionen und Besprechungen, die nicht ganz so spannend waren. In etwa vergleichbar vielleicht mit dem Treffen eines Hausfrauenvereins, der sich einen tollen Namen gegeben hat, aber letztlich nur das billige Ziel verfolgt, sich regelmäßig in einer mittelmäßigen Kneipe zu treffen und einmal im Jahr zum Sauerlandstern zu fahren, um dort für eine Nacht mit fremden Männern anzubandeln.
Sogar der abendliche Wein stellte sich als ungenießbar heraus. Die Verabredung sagte ab, die DVD funktionierte nicht und das Wasser in der Wanne blieb kalt. Immerhin dies: der nächste Tag würde nur besser werden können.

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