Noten

Statt der erwarteten Eins stand auf dem Zeugnis nur gut. Zuerst war der kleine fünftklässliche Biofan wütend, dann traurig. Geknickt. Er konnte sich einfach nicht erklären, warum nicht auch er ein Sehr Gut bekommen hatte, so wie seine hübsche blöde Nachbarin, die mit den seidenblonden Haaren und dem süßen Lächeln. Die meist beredt schwieg. Die eine Haut wie Marzipan hatte. Die auffallend selten die Hand zum Melden hob, die zu allem, was der Lehrer sagte, begeistert ja und Amen sagte. Dem kleinen Nipp allerdings entsprach es mehr, die Dinge zu hinterfragen. Das Offensichtliche als Grundlage weiterführender Theorien zu machen, unangenehme Fragen zu stellen und vor allem sorgsam gehütete und geschätzte Gewissheiten anzuzweifeln. Wie oft hatte er damit recht gehabt, den Unterricht wirklich weitergebracht und machmal sogar schon innerhalb der ersten paar Minuten ein zielführendes Ergebnis entwickelt. Wie oft hatte er Zusammenhänge herstellen und erklären können, die anderen verschlossen blieben. Offensichtlich dies eine unerwünschte Eigenschaft. Zum nächsten Elternsprechtag war seine Mutter mit ihm dann jedenfalls zum Biologielehrer gegangen, jenen der immer früh morgens schon nach Doornkat oder Kümmerling roch. Der immer wieder mit bissigen, mit bösen Sprüchen weit jenseits des Sarkasmushorizonts seine Schüler effektiv zum Heulen bringen konnte. Der immer einen weißen Kittel über seinem dicken Bauch trug, eine dicke rote Nasse hatte. Der hatte dann ganz freimütig erklärt, dass dieses Kind bei ihm niemals eine Eins bekommen würde. „Ihr Sohn wird bei mir niemals eine Eins bekommen!“ Der auch ganz einleuchtend begründete, warum ihm die Vergabe eines Sehr Gut nicht möglich erschien. „Der zeigt ja schon auf, bevor ich eine Frage gestellt habe, der lässt den anderen Schülern ja gar keine Chance. Ihr Sohn ist wirklich unterrichtsasozial.“ Die Frage der Mutter, ob die Antworten denn falsch seien, hatte dieser kompetente Pädagoge ehrlich beantwortet, verneint. „Der hat noch niemals eine falsche Antwort gegeben, aber er weiß einfach immer schon vorher, was ich fragen werde, so geht das nicht.“ So hatte auch die nächsten Jahre das hübsche blonde Mädchen ihre Eins für ihr Da-Sein bekommen und der kleine Nipp seine Zwei. Immerhin blieb ihm die Biologie verbunden, verwurzelt im Denken, vor allem die Soziologie der Pflanzen und Pilze, die Symbiosen und wechselwirkenden Mechanismen. Auch ihr übrigens war es vergönnt, sich der Biologie anzuvertrauen, vor allem in Hinblick auf effektive Fortpflanzung, hatte sie doch insgesamt fünf Kinder zur Welt gebracht.

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