Beim Entwurf bleiben: Begegnungen mit dem Unsichtbaren

Er sitzt am Tisch und würzt sein Frühstücksei mit Salz. Der Kaffee schmeckt gut. Frisch, schwarz, stark.  Er hat vergessen, Milch dazu zu geben. Vor sich liegt eine Zeitschrift, der Kulturteil mit Kulturdebatten und Anstößen zum Kunstdenken. Er kennt diese gar nicht, sie scheint ihm aufwändig gestaltet, vom Design funktional und trotzdem schön,  als hätten sich einige Menschen zusammengetan, die sich tiefgehende Gedanken gemacht haben  – über die Langzeitwirkung, als bestünden diese Leute, Frauen sicherlich, an der Feinfühligkeit zu erkennen (Er schüttelt den Kopf über so ein Vorurteil.), darauf, archiviert zu werden – über den Ausdruck des Eindrucks – über die ästhetische Beziehung zwischen Form und Inhalt. Damit auch nachfolgende Generationen dieses Recherchematerial noch werden sinnvoll nutzen können. Fünfhundertjähriges Wissen über die Konzeption von Texten sind hier zusammengeführt. Er liest diese Gedanken zur Kunst und findet sich darin nur zum Teil wieder. Ein Text, der wie ein Manifest anmutet, der aufrütteln soll, zumindest aber aufwecken an Stellen, an welchen wir schon lange schlafen.

„Kunst ist in erster Linie funktionslos.
Kunst kann schön oder hässlich sein.
Kunst ist immer eine wie auch immer geartete Auseinandersetzung mit Welt.
Kunst kann alles sein und alles Kunst.
Kunst ist Politik, immer.
Kunst, die sich nur ästhetisch versteht, ist keine Kunst.
Kunst ohne Handwerk geht nicht, Kunst als Handwerk auch nicht.
Kunst muss die Welt nicht abbilden, aber reflektieren.
Kunst darf alles als Grundlage nehmen, kann alles zerlegen.
Kunst ohne Menschsein geht nicht, so auch umgekehrt.
Kunst ist lebensnotwendig, solange es um wahres Menschenleben geht.
Kunst muss Kunst infrage stellen.“

Aber stimmt es denn wirklich, dass Kunst funktionslos ist? Wird sie nicht seit Anbeginn der Menschheit zu zwei Zwecken in erster Linie verwendet? Zunächst im Religiösen, dann im Dekorativen. Kunst hat eine Funktion, immer. Die Auseinandersetzung mit der real erlebten Welt ist eine Funktion der Kunst – oder nicht? Ja, immerhin, Kunst kann und darf schön oder hässlich sein, ist immer in Gefahr, nur schön zu sein, nur ein hübsches Versprechen an die Welt zu sein, ohne sich mit ihr auseinander zu setzen. Es gibt da etwa Künstler, die Kunst behaupten, aber nicht ernsthaft schaffen, die lieber jene Dinge eklektisch kopieren, die sie in Verkaufskatalogen finden. Kunst als Produkt, als Verkaufsobjekt minimiert. Es gibt sogar solche, die sich lediglich auf Hübschismus beschränken und deren Arbeit trotzdem fälschlich als Kunst wahrgenommen wird. Ein süßes Baiser, schön anzusehen, doch wenn man hineinbeißt nur Süße, ohne Gehalt.
Das interessiert ihn nicht.
„Nicht wissen könnend, was sie ausstrahlt, wie sie wirkt. Was sie erreichen könnte, wenn sie ihre Karten ausspielte. Eine Mischung aus kindlicher Unschuld und dem Wissen des Erwachsenseins. Jedes Gegenüber kann so auf das Heftigste, vielleicht Gemeinste manipuliert werden. Zwischendurch ein Blick wie ein Einblick, eine tiefgehende Einsicht, dabei wie ein scheues Reh. – Dabei – Wer eigentlich hat mit diesen schrecklichen Tiervergleichen begonnen, die als Zeichen der Trivialliteratur gelten? – Es ist keine offensive Schönheit, sondern ein Zurücktreten hinter den augenfälligen Strahl des Angesichtes.“ So hatte Herr Nipp einst einmal eigensinnig einführend einen eigenen Text über die Kunst begonnen, hatte wie immer kein Ende gefunden, noch nicht einmal eine Mitte. Er blieb wie immer bei seinen Gedanken irgendwo im Nirgendwo stehen. Wusste um den Kern dessen, was er dachte, konnte aber niemals irgendwas zu fassen bekommen. Die Kernspaltung gelang ihm aber schon gar nicht. Obwohl er sich seit Jahren sicherlich größte Mühe gab, auch nur einmal einen Gedanken zu Ende auszusprechen, irgendwann verstrickte er sich einfach immer in sogenannten Allgemeinplätzen und wenn nicht, dann doch zumindest in inneren Widersprüchen. Wobei ja gerade die widersprüchlichen Tatsachen einen Gedanken spannend werden lassen können, wenn man nur weiß, wie dies denn wohl anzustellen ist. Er hatte es sich einfach angewöhnt, eine Idee immer schon in den ersten Zeilen völlig zu offenbaren. Das musste eigentlich nicht sein, kannte er doch einen Gleichaltrigen, der sich als Künstler durch das Leben kämpfte oder gerade auch nicht, sondern schleppte, der durchaus in der Lage war, ein hochinteressantes Gespräch zu führen, in welchem wie in einem Roman die vielen Ansätze erst nach einer Sprachtirade von vielleicht einer dreiviertel Stunde zusammengeführt wurden. Er war dann immer erstaunt, dass solch ein Redeverhalten tatsächlich funktioniert. Dieser Mann hatte eine Grundlage für sich vereinnahmt, welche es ermöglicht sowohl die Spannung zu halten, als auch weiteres zu Sagendes sinnvoll einzufügen, nämlich die Rahmenerzählung. So konnte das Wachstumsverhalten von Christrosen durchaus zu einen Anlass werden, eine grundsätzliche Religionskritik an den Mann oder die Frau zu bringen, gleichzeitig aber auch zu bescheinigen, dass die Liedtexte von David Bowie doch eine chiffrierte Botschaft über das Sein an die Menschheit seien und anzuspielen, dass bestimmte Formen des Anbindens von Apfelbäumen zu einem besonderen Ertrag und Geschmack führen sollten. Ja, er hatte die Rahmensetzung des Erzählens zu einem zentralen Moment seines Seins gemacht, dabei konnte es dann allerdings passieren, dass der Zuhörende einerseits nicht mehr zum Sprechen kam und andererseits die Geduld verlieren konnte, trotz der Spannung. Aber wenn man nur fünf Minuten Zeit für eine Antwort hat, dann fällt es schwer so lange zuhören zu müssen. Herr Nipp allerdings verlor lieber die Hoheit über das Gesagte, verschoss sein Pulver zu früh. Inzwischen hatte er ein ganzes Konvolut aus ersten Sätzen, die sich gut machten, aber ein Weiterschreiben verunmöglichten, wenn es dieses Wort überhaupt gibt. Spätestens beim zehnten Satz aber waren seine Gedanken auserzählt. Ginge es bei Essays und Romanen nur um den Anfang, wäre er der König gewesen. Irgendwann würde er anfangen, diese zu verkaufen, an Autoren, die zwar tolle Romane auf die Kette kriegen, aber keinen tollen ersten Satz.
So aber musste er sich damit abfinden. Abfinden damit, dass sich Andere, jene Frauen und Männer, die wirklich was auf dem Kasten hatten oder aber die Funktionsweise von Texten in der Tiefe der Struktur durchschauten, die theoretischen Schlachten in der inhaltlichen Auseinandersetzung über alle möglichen Themen und vor allem das der Kunst schlagen würden. Er aber würde immerhin die Randnotizen in diesen Schlachten setzen, die Kommentare, kleine Schnittwunden, die die Fehler offenlegen.

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