Nachbarn

Nichts ist so langweilig, als wenn man krank auf dem Sessel sitzt, nicht mehr ein noch aus weiß, alles langweilig ist und sogar das Lesen eines guten Buches zu anstrengend wird. Herr Nipp hat es an diesem Tag wirklich kultiviert, sein krank Sein. Er hatte sich vor einigen Tagen unvorsichtigerweise erkältet, war nass aus der Sporthalle herausgekommen, wollte sich schnell in den Wagen setzen und zu Hause in die Badewanne. „Kannste vielleicht noch eben den Anhänger mitnehmen, ist blöd, wenn er hier über Nacht steht?“ Er hatte nicht nein sagen können, beim Anschließen allerdings feststellen müssen, dass der Stecker defekt war, so hatten die beiden über zwanzig Minuten daran herum gefuckelt. Wer nach dem Sport in einer Winternacht so auskühlt, kann eigentlich immer damit rechnen, dass die Erkältung folgt.
So saß er denn nun in diesem roten Sessel herum, die Füße auf dem ebenfalls roten Hocker. Beide hatte er vor einigen Jahren von einer lieben Freundin geschenkt bekommen und manchmal fragte er sich noch immer, womit er das eigentlich verdient hatte. So bequem war der, dass dort schon viele Bücher durchgelesen worden waren. Über sich eine braune Kuscheldecke, die auch zwei Ärmel zum Durchschlüpfen hatte. Ein Zufallskauf bei einem Discounter der Familie Albrecht, auf die Hälfte heruntergesetzt und damit sehr preisgünstig. Eigentlich sogar spottbillig. Welch ein Kontrast, ein teurer Sessel und eine Billigdecke, aber vielleicht gerade auch deshalb stimmig. Meistens stritten sich um dieses Stück zwei Hausgenossen, welche aber in diesen Tagen nicht zugegen waren. Manchmal seufzte er, als würde die Welt untergehen, so fühlte er sich auch. Wenn Männer krank sind, dann auch richtig. Männerkrankheiten sind Männersache, dann schweben sie zwischen Leben und Tod. Das wird eine Frau wohl nie verstehen. Auch Leiden ist eine Kunst. Zwischen den dicken Onkeln, die sich wie ein Horizont  unter der übergeschlagenen Decke abmalten, betrachtete er die Flammen im Kaminofen, der eine wohlige Wärme verbreitete, manchmal aber musste er auch aufstehen, Holz nachlegen, oder er kochte sich einen Tee aus im Sommer im Garten gepflückter wolliger Apfelminze, frischen Ingwerscheiben, die er mit seinem schärfsten Messer hauchdünn von der Knolle schnitt, Limonensaft und Honig aus den Dolomiten, der inzwischen so hart geworden war, dass man ihn regelrecht mit dem Messer schneiden musste. Dem gleichen übrigens, was dem Honig auf Dauer einen etwas seltsamen Geschmack geben sollte.  Dann hatte er zuweilen das erniedrigende Gefühl, die Beine würden ihm den Dienst verweigern.
Einmal musste er sich setzen, konnte sich nicht mehr halten. Schaute aus dem Fenster auf die sonnenüberflutete Straße, zwei Stockwerke tiefer. Seit Tagen war diese zum ersten Mal wieder trocken, die letzte Zeit waren geradezu Bäche heruntergeströmt und er hatte schon erwartet, irgendwann müsse das Tal doch endlich einmal vollgelaufen sein. Wer gar nichts mehr hat, an dem er sich zu Hause festhalten kann, der beginnt irgendwann unweigerlich, seine Gegend genau zu beobachten. Sogar die eigenen drei kleinen Apfelbäume mit alten Sorten wie Schafsnase und roter Walze, die in diesem Frühjahr unbedingt neu angebunden werden mussten.
Auf der anderen Seite aber tat sich was. Dort hielt, wie in letzter Zeit so oft, der silberne Wagen des Hausbesitzers von gegenüber. Ein älterer Herr mit grauen Haaren, der hatte sich angewöhnt, seinen Wagen so quer über Bürgersteig und Straße zu parken, dass die armen jungen Damen mit Kinderwagen über die Straße mussten, sogar ältere Menschen mit Rollatoren hatte keine Chance vorbeizukommen. Der alte Mann stieg dann immer ganz eilig aus seinem Gefährt, hielt sich am Hosenreißverschluss fest, zog diesen herunter, dann erleichterte er sich in die eine Ecke des Häusereingangs, in welcher sich ein Blumenbeet befand, schüttelte ab und dann schloss er sichtlich erleichtert die Haustür auf. Nicht immer dachte er daran, den Reißverschluss nach oben zu ziehen, an diesem Tag guckte sogar noch ein Zipfel des Hemdes aus dem Schlitz. Warum er das nicht innen machte, blieb Herrn Nipp ein Geheimnis. Auf jeden Fall schien dieser Mann einen gesunden Strahl zu haben, jedesmal war nach der Tat ein breiter Fleck auf der Wand zu sehen. Irgendwann würde dort bei Veräußerung des Hauses eine großflächige Sanierungsmaßnahme anstehen. Vielleicht aber hatten ja auch Urinstein, Harnstoff und Ammoniak eine besonders gute und festigende Wirkung auf das Mauerwerk?
Auf der Treppe vor dem Eckhaus standen wie üblich einige eher jüngere Menschen, warteten auf Einlass, manchmal gab es Tage, da erschienen von mittags bis abends nach und nach bis zu dreißig Leute. Immer in kleinen Gruppen oder einzeln. Wurden entweder sofort eingelassen oder mussten einige Zeit warten. Ungeduldig. Wenn sie nach kurzer Zeit wieder herauskamen, hatten sie meist sehr entspannte Gesichtszüge, geradezu zufrieden. Was die wohl da wollten, darauf konnte sich Herr Nipp auch keinen Reim machen. Immerhin war das in dieser Siutation interessanter, als wenn gar nichts passiert.

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