Jagdfieber

Zu einem ruhigen Abend auf der Kanzel hatten sie sich verabredet. Nicht in den kühlen Gemäuern romanischer Wandelgänge,  zwischen den erhabenen Säulen und Pilastern einer gotischen protestantischen oder katholischen Kirche, sondern unter den nicht ganz so erhabenen Säulen eines Sauerländer Fichtenwaldes. Na, von einem Wald konnte man hier eigentlich wohl kaum sprechen, handelte es sich doch eher um einen schlichten, wenig naturbelassenen, dafür streng organisierten Wirtschaftsforst. Meter um Meter standen die Nadelholzsoldaten in Reih und Glied, kilometerweite dunkelgrüne Einöde mit der ungewollten Abwechslung gelegentlicher Wind- und Schneebrüche, und wenn es die völlig überlasteten Forstarbeiter sehr gut mit dem Auge gemeint hatten, wahrscheinlicher aber aus völliger Gleichgültigkeit gegenüber dem mehr weniger funktionierenden Dysbiotop, auch mal mit einer dürren Birke am Wegesrand, die sich langsam aber sicher zu Tode quälte, und das nicht nur aus Langeweile. In solchen Holzfabriken konnte man sich höchstens an den Wegsaumen erfreuen, an welchen auch mal andere Pflanzen mehr zufällig als gewollt wuchsen.  In diesem Stück des Arnsberger Waldes, der normalerweise, allerdings an anderen Stellen, von natursüchtigen Niederländern wochenends regelmäßig überflutet wurde, damit kennen sie sich ja aus – Überflutungen, gab es keine Sehenwürdigkeiten, hier herrschte deutsche Zucht und Ordnung. Aber wen interessiert das eigentlich, wenn man nachts in aller Ruhe auf der Kanzel sitzen kann, abgeschlossenes Räumchen, das vor Wind und Wetter schützt. Im Schnee sind nur noch die Trampelpfade zu erkennen, alles andere ist undurchdringliches Schwarz. Schwarzer Kaffee im Abendgrauen – ohne Milch.
Die gelegentlichen Geräusche des Windes, das allmähliche Tauen des Schnees, die Eintönigkeit des beobachteten Abschnittes Lichtung (Man beachte: Aufzählung mit dreimal Genitiv). All dies hatte einen sehr wohltuenden Einfluss auf Herrn Nipp. Endlich wieder einmal kam er runter. Erdung als Ziel. Die beiden Freunde hatten eine dunkeldicke Decke über ihre Knie gelegt, gemeinsame Wärme, manchmal wurde am viel zu heißen Tee genippt, an welchem sich der Jäger dann auch regelmäßig die Lippen verbrannte und seine verständlichen Flüche kaum unterdrücken konnte. Eines muss nämlich immer beachtet werden, wer im Wald nicht leise ist, bekommt auch keine Sau vor die Flinte. Dann gibt es keinen leckeren Braten auf den Tisch oder Ragout. Auch der Flachmann tat seinen Dienst. Herrlich klarer Korn, der von innen wärmte.
Vier Stunden lang saßen sie dort, meist schweigend, meist in die eigenen Gedanken versunken, den Ausschnitt Welt anstarrend, auf die Geräusche lauschend, in innerer Anspannung immer dann, wenn ein Knacken alles veränderte. Ein waches Tier irgendwo unsichtbar in der Nähe. Vielleicht auch ein Ast, der wegen der von oben herabfallenden Last gebrochen war. Zu Boden rauschend mit einem dumpfem Geräusch aufschlagend.
Herr Nipp liebte dieses schweigende Einverständnis, besser nichts sagen als zu viel. Fernsehgucken wäre sicherlich ereignisreicher gewesen und auch wärmer, aber dieses fast zenbuddhistische in die Leere Streben der Gedanken war ihm viel wertvoller.
Sie hörten zwischenzeitlich eine Rotte Schweine, sahen sie auch im Unterholz zwischen den zurückgebliebenen Fichten, die von den schnellwachsenden anderen längst überwuchert erwürgt waren. Irgendwas zwischen sechs und zehn Schweinen, schöne Tiere sicherlich. Aber zum Schuss kam der Jäger nicht. „Ich hätte dir gerne eins geschossen.“ „Ach so, darum ging es?“
Am nächsten Tag aber lag er mit Schüttelfrost im Bett.

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