Überschreitungen

Völlig entsetzt schaut sein Gegenüber ihn an. Sie hat eingehend die Verpackung studiert. Gesalzene Butter auf den ersten Blick, auf den zweiten jedoch stellt sich heraus, dass der als Butter bezeichnete Aufstrich tatsächlich aber nur 40 % des tierischen Milchfettes enthält, den Rest hat der Produzent mit Wasser und Rapsöl, aber auch dem titelgebenden Salz aufgefüllt, Frechheit. Um die Streichfähigkeit zu verbessern, auch bei extrem niedrigen Temperaturen, versteht sich von selbst. Das aber scheint tatsächlich ihren Blick nicht auszulösen, auch nicht der Fettgehalt von immerhin 67 Prozent. Schließlich erwartet wohl jeder, dass Butter auch Fett enthält, sogar Menschen, die um ihrer Figur willen lediglich Halbfettmargarine verspeisen, ist bewusst, dass ihr Brotaufstrichgenuss immer mit etwas Fett gekoppelt ist. Friss-die-Hälfte-Diäten allerdings dann auch noch mit Halbfettmargarine oder mit Joghurtkulturen angereicherter Butter auf ein Viertel zu drücken, scheint ihnen der Mühe und vor allem der immensen Kosten wert. Nur wer genug Geld hat, kann die Figur halten. Wissen wir doch aus verschiedenen Feldstudien, die hier wohl besser Fettstudien genannt werden müssten, dass vor allem in den Schichten höherer Bildung und damit meist auch Einkommen, die Rate der Normalgewichtigen weitaus höher ist als in den unteren Schichten, wo man ganze Familien entdecken kann, die Schwierigkeiten haben, ihr Gewicht angemessen zu kontrollieren. Zuckerhaltige Limonaden sind im Regelfall einfach billiger als Säfte. Galt es in der Barockzeit noch als unerreichbar, eine gesunde Molligkeit zu generieren und war es damals darob auch ein Schönheitsideal, so ist es heute unmöglich fast, normal, als recht schlank durch die Welt zu gehen. So ist das Schönheitsoptimum also auch der sogenannte Hungerhaken, eher knabenhaftes Mädchen. Das Problem dabei sind übrigens nach neuesten Erkenntnissen nicht die zu uns genommenen Fette, davon können wir wahrscheinlich ohne Schaden ziemlich viel verspeisen, sondern das Verhältnis zwischen Kohlehydraten und Proteinen, schießt es ihm wie eine Mozartkugel durch den Kopf. Man kennt diese Gedankenkonglomerate, wenn sich plötzlich das ganze Assoziationsvolk einen Weg an die Oberfläche bahnt oder kurz darunter auf die Gelegenheit wartet, alles mit seinem Verweismüll zu überfluten. Ganze Reihen von Randnotizen und Belegfelder tun sich da auf, wie der babylonische Graben. Mal ehrlich, wer glaubt schon an Diätbutter? Wer kein Fett haben möchte, sollte auf diesen Klebstoff zwischen Brot und Käse einfach verzichten.
Herr Nipp hat es selber über lange Zeit ausprobiert, schmeckt auch ganz gut. Ja, man kann sogar behaupten, dass der echte Geschmack der Marmeladen und Käsesorten dann umso klarer hervorsticht. Trotzdem, wenn er an sich herunterschaut, hat diese sogenannte Diät gar nichts gebracht. Im Gegenteil, wenn er nicht langsam einmal anfängt, ernsthaft an seinem Bauch zu arbeiten, wird er demnächst ähnliche Sprüche über sich ergehen lassen müssen, wie er sie selber lange Zeit von sich gab. Jetzt allerdings nicht mehr, weil er Angst vor den Konsequenzen hat.
Aber darum geht es eigentlich hier und jetzt gar nicht, sondern um diesen Blick dieser Frau, die ihm gegenübersitzt. Es ist wieder einmal unglaublich, da sollte er sich mal auf die Gegebenheiten, die Belange und sicher auch Gefühle eines anderen Menschen konzentrieren und diese ernst nehmen und was macht er?
Bitte, machen Sie mir (dem Autor) jetzt keine Vorwürfe, ja, Sie könnten sagen, dass der Erzähler (nicht der Autor) das zu steuern hat, schließlich kann er doch beispielsweise einfach mal die Erzählperspektive so wählen, dass die Gedanken des Herrn Nipp hier nicht weiter zu lesen sind. Er kann tatsächlich auch Auslassungen vornehmen, die Nebensächlichkeiten endlich einmal beiseitelassen, all jene Punkte streichen, die auf den ersten, zweiten und dritten Blick überflüssig erscheinen, ja, das könnte der Erzähler (wahrscheinlich auch der Autor) machen. Aber tatsächlich ist es ja auch wieder so, dass sich erstens Erzähler und Autor nicht immer einig sind, wie nun zu verfahren sei, zweitens es ja gerade vielleicht auch spannend sein könnte, etwas über die Innenwelt unseres Protagonisten, der Figur, zu erfahren und zwar ausgesprochen nur aus seiner Sicht. Drittens gäbe es ansonsten nicht viel über Herrn Nipp zu berichten und viertens weiß ja niemand einzuschätzen, ob der implizite Leser, also jener erwartete Rezipient, dem gleichzusetzen, der tatsächlich diese Zeilen sich vorgenommen hat, in der Erwartung einer angenehmen Unterhaltungssituation natürlich. Fünftens schließlich, ich will auch gar keine weiteren Gegenargumente ersinnen, wäre die Sprache so wie gefordert verdichtet, würden letztlich Gedichte herauskommen. Und wer, seien Sie doch mal ehrlich, möchte schon Gedichte lesen, wenn sie nicht gerade von Stars der Szene kommen, wie jenem Berliner Autor Jan Wagner, den wir alle ehrfürchtig, ja, fast apotheotisch verehren (Man verzeihe mir die Hyperbel). Und außerdem sind die meisten Gedichte nicht nur gewollt lyrisch, sondern auch noch ungewollt schlecht. Am schlimmsten wird es dann allerdings bei der sogenannten Erlebnislyrik oder Gefühlslyrik pubertierender Männlein oder Weibchen, die so dermaßen testosteron- oder östrogengeschwängert ist, bei welcher der zukünftige Selbstmord oder zumindest die Selbstverstümmelung immer vor der Türe steht, dass das Fremdschämen vorprogrammiert, vielleicht auch einkalkuliert ist. Jeder Leser oder gar Zuhörer solcher Ergüsse wird entweder in schallendes Gelächter ausbrechen, allein schon, um sich selbst zu schützen, oder aber das Buch zuklappen und nie wieder öffnen. Stellen Sie sich also diesen Text so heruntergebrochen vor, er wäre vielleicht vier Verse wert, als Chiffre natürlich, nicht erschließbare Bedeutungsschatulle, aus der sich der Leser , die Leserin nicht zu vergessen, trotz ihres verschlossenen Zustands das herausklauben könnte, was er oder sie gerade braucht.

Blick ins Ungewisse
Gerichtete
Ihr Erschrecken
Sein im Hier sein

Ehrlich, das braucht kein Mensch. Also kommen wir also zum Thema zurück. Tatsächlich ihr Blick, der ins Erschrecken entflieht und Herr Nipp kann nicht erschließen, worum es eigentlich gehen könnte.
Wer abnehmen will, soll einfach Sport machen, weniger essen und vor allem kein Alkohol, fertig, so zumindest denkt er in dieser Situation, hat den Rest, den ganzen Überbau, die historischen Verquickungen, die verschiedenen Schönheitsideale durch die Epochen, die androgyne Ästhetik der achtziger Jahre, die gefeierte Femme Fatale Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts lange hinter sich gelassen, all das nur Geistesblitze, Gedankensplitter, nie zu Ende gedachte Nebelschleier, die zu lüften nicht mehr hervorbrächten als das, was die Gesellschaftswissenschaften uns als Wahrheiten verkaufen wollen, letztlich also nichts, zumindest nichts von Dauer, oh, welch barocker Gedanke. Vielleicht geht es dem Gegenüber aber auch, kommt es ihm, unserem Helden des Alltagsstumpfsinns, in diesem Moment in den Kopf, um die Zusatzstoffe, die vielen Es, die man in langen Listen entdecken kann und deren Aufschlüsselung im Internet natürlich kommentiert und vieldiskutiert erschließbar (immer wieder reizvoll, diese sinnlosen Bedeutungsverdopplungen) ist, mit Gefahren und Funktionen und vor allem den Erwartungen, die wir an diese haben.
Nein, das offensichtliche Entsetzen ist anderer Natur. Manifestation des Datums. Zufällig Herr Nipps Geburtstag. Die Mindesthaltbarkeit seit einiger Zeit überschritten.

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