Zwischenfall

In der Ecke, ganz hinten in der Lieblingsspelunke, die er wochenends so gern aufsucht, am liebsten an den Freitagen, als Einstieg ins Wochenende, um zumindest einige seiner Freunde zu treffen, steht ein Tisch, der wie aufgebockt erscheint. Die Wirtin hat einen Kasten gebaut oder bauen lassen, das weiß man nicht so genau, darauf das alte Kneipenmöbel montiert. Wenn man auf einem bequemen Hocker sitzt, fällt das kaum noch auf, das Verhältnis zwischen Tisch und Sitzgelegenheit ist dann stimmig, hier ist so einiges improvisiert. Gerade das macht einen Teil der Atmosphäre, die fotografischen Bilder alter Stadtansichten, ein großer Spiegel, der funktionslos so an der Wand hängt, dass sich niemand darin spiegeln kann. Es erscheint ganz bequem hier, als wäre man zurückgekommen in die Lieblingseckkneipe aus der eigenen Jugend, die es leider nicht mehr gibt, der damalige Kneipier Dieter, der immer eine selbstgestrickte Mütze auf der Löwenmähne trug und einen silbergrauen Rauschebart wie der Nikolaus hatte, ist schon lange tot. Er war eine Instanz. Früher hatten sich die Freunde dort getroffen, andere als heute, die sich in alle Welt verteilt hatten. Am Flipper standen immer zwei und kämpften um den höchsten Score, jeder wollte sich nur einmal eintragen unter den besten zehn, das war damals so etwas wie sich als König der Welt fühlen. Dort traf man sich, trank ein paar Bier, manchmal auch einige Runden Tequila, hörte die meist ganz gute Musik, die meist noch vom Plattenspieler kam, manchmal aber auch von der Kassette, dann kam es darauf an, wie diese ausgesteuert war, manchmal konnte sich sonst auch die harmonischste Musik von Simon und Garfunkel wie Einstürzende Neubauten anhören oder letztere wie ein braves Gesäusel, das niemandem etwas anhaben konnte. Fleischlego oder Halber Mensch waren dann lediglich flauschige Nettigkeiten, die im allgemeinen Gesprächsrauschen untergingen. Schlimm allerdings wurde es manchmal, wenn die Wirtin ihre Lieblingsmusik anmachte, dann konnte es sogar vorkommen, dass man den halben Abend Gypsi Kings ertragen musste und wehe, wenn jemand es auch nur ansatzweise wagte, auch nur leiseste Kritik zu üben. Oft saßen sie dann den ganzen Abend einfach nur herum oder spielten auch mal eine Runde Backgammon, vor allem aber dann, wenn Herr Nipps beste Freundin da war. Die hatte eine unwiderstehliche Strategie und unverschämtes Glück, gewann normalerweise jede Serie und fand das auch noch ganz normal. Auch hier ein Aber Wehe: Aber wehe, sie verlor mal einige Spiele hintereinander, dann war die ganze Abendstimmung dahin, weil wohl wieder weniger wichtige Wesensheiten wahnsinnig wirsch aufkamen. Immer in Spiralen alles voranschritt. Die Zeiten sind vergangen, Erinnerungen an eine mehr oder weniger unbeschwerte Zeit des Zwischen. Zwischen der Jugend und dem Erwachsensein mit all den Verpflichtungen.

Wie auf einem Hochsitz fühlt er sich dann, während die Wirtin ihm das Bier bringt, den folgerichtigen Korn im gefrorenen Glas. Gut gebraute, gezapfte Spezialität aus dem Sauerland, gut gebrannte Spezialität aus dem Sauerland, so lässt sich zumindest vermuten. Gleichzeitig und das mit der zweiten Hand füllt sie das kleine Schüsselchen auf dem Tisch mit Chips auf. Ja, Knabberzeug gibt es hier sogar ohne Aufpreis. Knabberzeug, über das er später herfallen wird, als habe er seit Wochen nichts zu essen bekommen. Knabberzeug, das ihm später auf den Hüften hängen wird, über das er sich nur immer freut, wenn es aufgetischt wird. Die Sucht nach Fett, Knuspern und Glutamat verstärkten Gewürzen. In aller Ruhe setzt er jetzt erstmal das Glas an. Perlig rinnt es durch die Kehle, kühles Blondes, denkt er. Er wartet heute, die anderen scheinen sich verspätet zu haben. Nicht wissend, ob sie noch kommen werden, sitzt er ganz ruhig da, lauscht den Gsprächen der anderen Gäste, ohne ihren Inhalt zu verstehen. Der Rhythmus reicht ihm, auch das ist eine Form der Zufriedenheit. Das ist doch lachhaft, denkt er, wo bleiben denn die anderen. Warum sollten die anderen denn nicht kommen, warum sollten sie ihn da sitzen lassen? Er kontrolliert seine mobile Kommunikationseinheit und muss feststellen, dass er wieder einmal eine Nachricht übersehen haben muss. Ja natürlich, sie werden später kommen, irgendein nicht näher benannter Zwischenfall. Vielleicht ein Unfall? Haben die beiden etwa Probleme mit dem Auto und stehen am Straßenrand und niemand hält an, um zu helfen? Vielleicht geht es auch um die Verwandtschaft und irgendetwas ist passiert, was nicht vorauszusehen war. Vielleicht ist ja auch jemand krank geworden oder der eine Freund hat sich die Finger im Kühlschrank geklemmt, während er heimlich ein Eis herausholen wollte. Oder ist vielleicht einer Bäume im großen Garten umgekippt, der fast schon als Wald zu bezeichnen ist. Hat der dann vielleicht eine Schneise gerissen und andere Bäume mit sich? Vielleicht war es aber ein ein Feuer in der Nachbarschaft und die beiden mussten helfen zu löschen. Er macht sich Gedanken und gerät mehr und mehr in die Denkspriale nach unten. Er dreht sich zum Fenster und hört hinter sich plötzlich munteres Geplauder, die beiden sind da. „Oh hallo, sorry, Waschmaschine war kaputt, wir mussten bei Oma waschen.“

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