Ausgehen und unerwartet nicht wiederkommen

Auf dem Tisch vor sich hatte Herr Nipp die Zeitung des Tages liegen. Nein, er konnte nicht von sich behaupten, alles gelesen zu haben. Vielmehr hatte er wie üblich alles nur flüchtig überflogen, war hier und da kurz über einzelne Überschriften gestolpert oder hatte an einzelnen Wortgebilden verharren müssen. Ganz ehrlich gesagt interessierten ihn die meisten Inhalte auch nicht besonders. Viel wichtiger war ihm die Mandarine, die einen warmwohligen Duft verströmte, mit jedem Stückchen Schale, welches er mühsam vom festsitzenden Fleisch entfernte. Er legte die Schale auf die Zeitung, würde diese später gemeinsam entsorgen, draußen auf dem Komposter, aber erst, wenn auch die Abschnitte des Gemüses vom Kochen dazugekommen wären. Er interessierte sich nicht dafür, dass Steven Spielberg einen fünften Indiana Jones drehen wollte, auch wer wohl Gaia Repossi sein könnte, ehrlich gesagt hatte er diesen Namen wirklich noch niemals vorher gehört oder gar gelesen. Die sogenannten Promis kommen und gehen glücklicherweise schnell wieder, werden genau dann von der Öffentlichkeit vergessen, wenn diese bemerkt, dass solche Menschen nichts zu sagen haben, also abgesehen von genau kalkulierten Skandälchen keinen Inhalt zu liefern vermögen. Auch wer in der Edeka-Reklame die Deutschen zu Tränen rührte, kümmerte ihn nicht im Geringsten, was vielleicht auch damit zu tun hatte, dass einfach kein Fernsehanschluss in seiner Wohnung eingerichtet war. Und er legte ebenso einfach keinen gesteigerten Wert darauf, im digitalen Netz zu forschen, um welchen Spot es sich denn handeln könnte. Was sollen diese eigentlich völlig unwichtigen Artikel in einer der wichtigsten deutschen Zeitungen überhaupt? Muss ein solches Gesellschaftsgeblubber denn überall Fuß fassen? Dafür gibt es doch die sogenannte Yellowpress – welch eine wunderbar euphemistische Tatsachenverdunklung. Boulevardmüll sollte anders entsorgt werden, ist dies nicht ein wichtiger Teil unserer Kultur? – Alles ist Abfall mit der Produktion schon.
Voller Lust biss er in den ovalrunden Fruchtkörper, dieses orangefarbene Geschmacksparadies, trieb mit der Zunge die einzelnen noch nicht geplatzten Saftzellen durch den Mund und zerdrückte sie genüsslich mit seinem Geschmacksorgan gegen den Gaumen. Seltsamerweise musste er dabei an Kaviar denken.
Außerdem wusste er, dass die frische Luft draußen rief. Nicht der Berg, die Luft rief. Freute sich schon auf das wohlige Frösteln der kalten Feuchtigkeit. Es roch nach Schnee und er wollte den ersten Schnee des neuen Jahres endlich fühlen, die Flocken auf der Haut schmelzen sehen. Welch ein Kontrast, wenn einerseits die Narzissen auf der Fensterbank blühen und andererseits endlich, nach langem Warten, der weiße Winter seinen Einzug hält. Anderthalb Monate zu spät, aber immerhin. Seit einigen Jahren schon hatte er den Eindruck, dass sich alles irgendwie verschob, aber das war wohl inzwischen von allen so akzeptiert, egal was passierte, man konnte es herrlich auf den Klimawandel schieben und damit hatten andere Schuld, am besten ganz abstrakt die Wirtschaftsnationen und vor allem China – und dort gibt es viele Säcke Reis.
Nichts ist so frustrierend als ein langer Arbeitstag mit Tätigkeiten, dachte er, die nicht erfüllen, nicht erfüllen können, weil sie wenig nur mit dem zu tun haben, was er sich einst von diesem Beruf versprochen hatte. Er hatte einst gehört, wer sich sein Hobby zum Beruf macht, der wird nie arbeiten müssen. Wer das allerdings behauptet, hat wohl vergessen, dass meist irgendwann die Verwaltung hinzu kam. Wenn aber der Verwaltungskram, die Administration irgendwann wichtiger wird als der eigentliche Beruf, die geliebte Tätigkeit, dann läuft etwas falsch. All die Probleme dort schienen so wichtig, dabei waren es nur solche, die durch die Verwaltung selbst geschaffen wurden, abstrakt albern. Die Welt draußen drehte sich trotzdem weiter, weit entfernt und würde sich niemals für die überdrehte Aufregung im System interessieren. Blasenkrankheit unserer Gesellschaft. Niemanden interessiert, ob man perfekt gearbeitet hat, solange das Ergebnis stimmt.
An die frische Luft, auf die alte Holzbrücke, die ihn jedesmal in dieses weiße Rauschen einhüllte. Benebelte Sinneserschütterungen auf der nach oben offenen Richterskala. Alles schien dann wie unter einer Glocke, die Straßenlaternen ließen alte Hinweisschilder leuchten. Hier konnte er sich leer fühlen, wie Meditation, nur schneller, umfassender.

Das Päckchen Tabak in seiner Hand. Er wiegt es, vielleicht noch für fünf sechs Zigaretten genug. Riecht daran, muss sich ekeln, eine Erschütterung, Stakkato. Im Losgehen zerknüllt er die Hülle, die Papiere darin zu einem Ball und setzt mit einem gespielten Sprung zum Mülltonendunking an, trifft. Er wird heute gehen, nicht zur Arbeit, er weiß noch nicht, wohin, er wird an diesem Tag ein Ziel finden, endlich.

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