Wo ist das Kind? Teil 1

Das hat jeder schon einmal erlebt, irgendwann einmal, vielleicht sogar am eigenen Leib. Herr Nipp konnte sich noch immer an jenen Urlaub erinnern, den er mit 2 Jahren verbracht hatte. Entgegen den Behauptungen der Mutter wohlgemerkt, die ihm immer gesagt hatte, das könne gar nicht sein, habe niemals sein können, er sei außerdem doch viel zu jung gewesen, als er sich daran habe jemals erinnern können. Ja, das ist immer ein gutes Argument, wenn Menschen ihre tiefsten Erinnerungen reaktivieren. Nein, das habe man doch höchstens aus den Erzählungen der anderen wissen können. Aber er wusste nun mal, was da passiert war, was er erlebt hatte. Erst Jahre später, Jahre nachdem er selber die Geschichte berichtet hatte, hatte sein Vater spätabends auf einer feuchtfröhlichen Familienfeier seine Version der Geschichte unter dem Gelächter der gesamten Tanten und Onkel zum Besten gegeben. Die Wahrheit holt auch diejenigen ein, die Unangenehmes gerne vertuschen wollen. Also merke, es lohnt nicht, etwas zu verschweigen, besser ist es, wenn die sogenannten Familiengeheimnisse auch den Nachkommen mitgeteilt werden.

Es war jener Sommer 1972 an der Nordsee gewesen, in welchem die Eltern entschieden hatten, eben dort ein Haus zu kaufen, solide gebaut, für die Zukunft. Die Mutter würde dann endlich ihren Führerschein machen, um wochenends, wenn der Vater zu Hause am Schreibtisch saß, mit den Kindern ans Meer zu fahren, um sich dort zu erholen. Es mag auch 1971 gewesen sein, denn das vierte Kind war noch nicht da. Herr Nipp konnte sich auch wirklich nicht an eine schwangere Mutter erinnern, da diese seiner Meinung nach sowieso schon immer recht füllig gewesen war. Eine echte Mutter eben, wie man sie sich so vorstellt. Übrigens genauso, wie er sich gerade fühlte, nicht mütterlich, aber dafür umso fülliger, ja sogar bis zum Platzen gespannt. Da wäre es einem Kind natürlich nicht bewusst gewesen, dass die eigene Mutter ein weiteres Kind unter dem Herzen trug, wie man so schön sagt. Dazu auch noch eines, das ihn selber auf Dauer zum Sandwichkind machen sollte. Sozusagen die Taschenfeder einer Matratze, die funktionieren musste und wollte sie auffallen im Haufen der Balgen, musste sie schon brechen, defekt in dem Rücken stecken. Seine einzige Chance, überhaupt noch wahrgenommen werden zwischen dem Kronprinzen, seinem älteren Bruder, der Prinzessin, seiner älteren Schwester und dem kleinen Prinzen, sollte dann in Zukunft das irgendwie Quere sein, im Denken und Handeln. Nicht boshaft, aber doch eben nicht so glatt. Er musste die Erwartungen hinterfragen und an den richtigen Stellen die Stellschrauben drehen, Kleinigkeiten herausarbeiten, die ihn wirklich anders machten. Aus der Funktion der Pufferzone eine eigene Persönlichkeit entwickeln, mit eigenen Ideen und Interessen, die immer über das etwas hinausgingen, was gefordert war, in die eine wie die andere Richtung. Und sei es nur, dass er all die Bäume und Pflanzen kannte, über die sein Vater auf den langen Spaziergängen stundenlang referieren konnte. Über die Bäume und deren Hölzer, deren Einsatzmöglichkeiten im Möbel-, Geräte- und Hausbau. Woraus ließen sich besonders schöne Furniere herstellen, wie ließen sich diese auch noch effektvoll in Szene setzen, woraus ließen sich gute Massivholzmöbel bauen und woraus auf keinen Fall. Der Vater, der den Geruch des Eichenholzes liebte, den von gefällten Apfelbäumen widerlich fand, konnte ihm anschaulich erläutern, warum Axtstiele aus Esche und Hammerstiele möglichst aus Weißbuche zu sein hatten, dass man Stühle aus Buche oder Eiche herstellte oder manchmal auch aus Kiefer, niemals aber aus Erle, die viel zu anfällig für Holzwürmer sei. Er konnte anschaulich erklären, warum man beim Schmirgeln von Ulme (er nannte sie Rüster) Hustenreiz bekam, dass Kirsche und Walnuss die schönsten Hölzer seien, dass Birkenstaub zum Niesen führt, unweigerlich. Jede Holzart wurde besprochen, viele Vor- und Nachteile, das Gewicht und die Haltbarkeit und nicht zuletzt der Brennwert. Der Vater glaubte tatsächlich alles über Holz zu wissen, aber der Sohn, jenes Sandwichkind, wusste sich zu helfen. Ganz nach dem Motto, wer lesen kann, ist klar im Vorteil, hatte er sich nach und nach alle Informationen zugelgt, die der Vater nicht kannte. Mit welchen Pilzen etwa die Bäume in Symbiose lebten, warum hier und nicht dort Misteln zu finden waren, welchen Boden welche Art bevorzugte und bis zu welcher Höhe die Bäume wachsen konnten. Welche Tiere sich von den Bäumen ernähren und warum bestimmte Arten von den Förstern nicht gerne gesehen sind. Er malte sich dann aus, wie es seinen Vater schon ein bisschen verärgerte, dass der Sprössling immer noch einen draufzusetzen hatte.

Wie auch immer die Auswirkungen der Geburt des Bruders waren, sie sollten eigentlich gar nicht Bestandteil dieser kleinen Geschichte werden, aber wenn einmal ein Gedanke in die Welt entlassen wurde, dann pflanzt sich dieser meist weit über die gedachten Grenzen fort und plötzlich landet der Schreiber in einer ganz anderen Geschichte und muss mal wieder zugeben, dass im Grunde genommen alles irgendwie zusammenhängt.

Das berühmte Ferienhaus an der See hatten die Eltern damals dann leider doch nicht gekauft, lediglich der Führerschein der Mutter war realisiert worden. Überhaupt sollte es nach diesem Sommer nie wieder einen Familienurlaub am Meer geben. Ab dem nächsten Jahr würden alle weiteren Urlaube in den Alpen stattfinden.

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