Auszeit

Ständig und überall umgeben von Menschen, die er wohl sehr gerne mag, die aber auch zuweilen recht eng rücken und ihm fast schon Panikattacken erzeugen, in ihrem Willen, da zu sein. Dann nimmt sich Herr Nipp eine Auszeit, die liegengebliebenen Arbeiten zu erledigen, die Papiere zu ordnen, die Rechnungen durchzusehen, vielleicht die Texte und Textfragmente zu ordnen, die sich angesammelt haben, die Wortskizzen zusammenklaubend, welche sich in den Ecken, Geräten und im Kopf finden, um doch noch irgendwann einmal den großen Text fertigzustellen, den er sich gedacht hatte. Es müssten ja nicht mehr als 150 Seiten sein denkt er, muss aber zugeben, sich selber zumindest, dass selbst das kaum schaffbar ist. Für ihn nicht. Wenn andere ihre Werke heraushauen, als hätten sie Fließbandarbeit zu erledigen, schreibt er in Wochen vielleicht ein zwei Seiten, nur um sie letztlich doch wieder in großen Zügen zu verwerfen. Er macht nun einmal keine Literatur, das soll anderen vorbehalten sein, er verfasst nichts anderes als floskelhafte, sprachliche Hilflosigkeiten, angesichts dessen, was der Markt jährlich auf eben diesen wirft.

Auch er würde gerne den Flug der Mauersegler, den er an sonnigen Abenden auf seiner unbequemen hölzernen Gartenbank sitzend beobachtet, in wohlklingenden Worten beschrieben wissen, selber beschreiben können. Die kreisenden Bewegungen, vor blauem Firmament, das plötzliche Richtungswechseln erfassen, immer dann, wenn eine Fliege, ein anderes Insekt erspäht worden ist, das im Aufwind der dunklen Häuserdächer in luftigen Höhen die Stadt überfliegt, anstatt auf den Straßen von einer Windschutzscheibe erfasst zu werden. Als schäbiger Fleck auf dem Glas zu enden und, der Bestimmung der Fortpflanzung entrissen, später abgeschabt zu werden. Dieser spannenden Lebenskämpfe könnte er vielleicht ein Buch widmen, hätte er nur die Sprache dazu, den Mut sich in neuen Wendungen zu ergehen oder fließend seicht wellenförmige sprachliche Unerheblichkeiten, die sich selbst überspülen und nichts hinterlassen als den gelangweilt meditativen Eindruck eines Schwappschwapp. Er würde gerne Wörter neu finden können und wissen, welche rhetorischen Figuren zweckmäßig einzusetzen sind, um dem Leser bestimmte Eindrücke noch besser, komprimierter und vor allem plastischer zu vermitteln. Auch er würde gerne jene wunderbaren Wortmelodien schaffen, die etwa ein Jan Wagner auf das Papier zaubert, so seinem doch immer bewundernden Ärger über Giersch, seiner Freude an der Natur, Luft zu machen.

Herr Nipp ist einfach nicht in der Lage dazu. Er würde auch keinen Verleger finden. Also verlegt er sich darauf, ganz verlegen seine Wortstammeleien zu sammeln und in ein kleines Büchlein niederzulegen. Kurze Geschichtchen werden da versammelt und ergeben niemals ein Ganzes.

Seine Markterlebnisse kann er beschreiben oder die Spaziergänge, die er so gerne durch Wälder und an den Bächen oder Flüssen entlang unternimmt, aber mal ehrlich, wen interessiert schon, dass er dort eine Prachtlibelle mit ihren wunderbaren Flecken auf den sonst durchsichtigen Flügeln bei ihrem gaukelnden Feentanz beobachtet hat. Dieses Geflatter, das auf den ersten Blick keine Funktion zu haben scheint und doch dazu führt, dass die jagenden Vögel die jagenden Insekten immer verpassen und irritiert den Rückzug antreten. Kein Mensch würde hinter dem Ofen hervorgeholt werden, wenn er eine Abhandlung über den Sturzflug des Eisvogels schreiben würde, den er wie in Zeitlupe schon so oft gesehen hat. Das fast perfekte Eintauchen ins Wasser, die viel zu oft doch erfolglose Jagd nach kleinen Fischen, die zu schnell sind, aufmerksam dem sicheren Tod entrinnen, sich nicht auf dem Ast totschlagen lassen, um in einem Stück verschlungen zu werden. Er könnte ja die hilflos glotzenden Augen der winzigen Opfer beschreiben, aber niemals würde sich ein Leser finden, so einen Schmarrn zu lesen. Und seine Gedichtversuche haben sich letztlich doch als Stümpereien herauskristallisiert, keine Avantgarde oder was auch immer, nur Worthaufen mit Worthülsen, nichtssagend, so schien es ihm.

Aber diese Tage der Einkehr liebt Herr Nipp, wenn er sich, ohne sich Gedanken machen zu müssen, ob er nun auch wirklich niemanden vor den Kopf gestoßen hat, zurückziehen kann, in seiner Wohnung in Bedächtigkeit durch die Ecken kramt und zuweilen sogar einige Dinge wiederfindet, von denen er vielleicht gar nicht mehr wusste, dass er sie noch hat, von denen er andererseits immer gedacht hatte, sie seien eigentlich auch niemals existent gewesen und nur eine vage Erinnerung an einen Traum, den er im Ganzen schon lange vergessen hat. An solchen Tagen, wenn die Luft so drückend ist, dass man sich den nächsten Wolkenbruch herbeisehnt, kann er endlich mal loslassen.

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