Deus ex machina

In der Ecke, ganz hinten in der Lieblingsspelunke, die er zuweilen abends gerne aufsucht, vielleicht um seine Freunde zu treffen, vielleicht auch manchmal, weil er eine besondere Form der Ruhe braucht und sich trotzdem zwischen Menschen aufhalten möchte, steht ein Tisch, der wie aufgebockt erscheint, einem Auto zu vergleichen, welchem die Räder gewechselt werden sollen, zum Frühling hin, weil die Winterreifen zu viel Energie verbrauchen, zum Herbst hin, weil die Sommerreifen zu gefährlich in der kalten Jahreszeit mit seinen plötzlich hereinbrechenden Kälteperioden oder Schneefällen sind. Die Wirtin hat darunter einen geschlossenen Kasten gebaut und das alte Kneipenmöbelstück einfach höhergelegt, denn wer möchte ehrlich gesagt schon an niedrigen Tischen verweilen, wenn alle anderen vor Ort oder zumindest in dieser Ecke der Lokalität auf hohen Tresenhockern an der Ausschankquelle sitzen und sich auf Augenhöhe begegnen können. Wer nun auf diesen erhöhten Sitzgelegenheiten mit seinen Freunden oder allein rund um oder an diesem aufgebockten Tisch sitzt, erfährt das Angenehme recht schnell; es ist bequem, denn beide Beine können in gutem Winkel auf eben dieser Kiste, die aus Tischlerplatte gezimmert wurde, abgesetzt werden, ohne dass eben jene auch nur Ansätze machen würden einzuschlafen. Wer sich ausstreckt, kann sie sogar ablegen. Wie auf einem Hochsitz fühlt er sich dann, während er auf sein helles Sauerländer Pils wartet, der Jäger, welcher sehnsüchtig der Begegnung mit dem kapitalen Hirsch entgegensieht, nicht um ihn zu erlegen, sondern das als stolz erfahrene Tier in freier Wildbahn erleben zu können, durch das hochauflösende Visier seines Gewehr zu betrachten, im Wissen, dass er es erlegen könnte, es aber erst dann tun wird, wenn ein gleichwertiger Nebenbuhler das genetische Erbe weitertragen wird.

Herr Nipp erblickt die gut gezapfte Spezialität, gleichzeitig stellt die Wirtin mit einem freundlichen Spruch eine Schüssel mit Knabberwaren auf die Tischplatte, freut sich, den gepflegten Durst ebenso gepflegt zu spülen, prickelnd. Er mag Bier tatsächlich nur dann, wenn er wirklich Durst hat, denn dafür eignet sich der Gerstensaft. Über die knusprigen Chips wird er später herfallen, als habe er noch nichts zu essen bekommen, damit der Durst gesteigert wird. Geschickte Kneipentaktik. In aller Ruhe setzt er erstmal das Glas an die Lippen und genießt diesen ersten Geschmack. Das leicht Herbe rinnt in und durch die Kehle. Er wartet heute, die anderen haben sich verspätet. Nicht wissend, ob sie denn wohl auch noch wirklich kommen werden, sitzt er ganz ruhig da, lauscht den immer gleichen Gesprächen, den Selbstbestätigungen der immer selben Gäste. Auch das ist eine Form der Zufriedenheit. Das ist doch lachhaft, denkt er. Warum denn sollten die anderen nicht kommen, warum sollten sie ihn hier sitzen lassen, sie haben sich doch verabredet. Das sieht ihnen nicht gleich. Er kontrolliert seine mobile Kommunikationsbasis, muss feststellen, dass er wieder einmal eine Nachricht übersehen haben muss. Ja, natürlich, sie kommen später, irgendein nicht näher benannter Zwischenfall. Vielleicht ein Unfall? Haben die beiden etwa Probleme mit dem Auto, das sonst doch so einwandfrei funktioniert, liegen mit dem Gefährt am Straßenrand und niemand kommt, um zu helfen? Oder geht es um die Verwandtschaft? Ist etwas geschehen, was das unbedingte Dasein erfordert, weil es um alles geht? Müssen sie jemanden etwa trösten? Herr Nipp steigert sich mit jeder Minute des Wartens in weitere, in immer heftigere Formen und Befürchtungen, trinkt ein zweites Bier, nun nicht mehr ruhig, sondern verfällt zusehends in Nervosität. Traut sich aber nicht anzurufen, weiß er doch, wie unpassend das erscheinen könnte. Wer weiß schon, ob das große Feuer in der Nachbarschaft überhaupt noch löschbar ist, ja, ob das Beben nicht auch bis hierhin vorgedrungen ist. Sind die Rettungsteams denn eigentlich durchgedrungen, die international gesandt worden sind?

Als die zwei Freunde feixend die Kneipe betreten, weiß Herr Nipp, dass alles nicht so schlimm war. Sie mussten noch Wäsche aus der Maschine der Großmutter abholen, weil das eigene Waschgerät den Geist aufgegeben hat.

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