Depressive Tomaten, amputierte Meise

„Da saß ich am Frühstückstisch, hatte mich noch mal eben gesetzt, noch kurz den Tee austrinken und ein paar Worte mit meinen doch sehr depressiven Tomaten zu wechseln, welche  ich die letzten Tage mental vernachlässigt hatte. Sie ließen ihre Blätter hängen, obwohl ich sie noch morgens gegossen hatte, Tomaten fühlen, musst du wissen!“, meinte sein Gast am Frühstückstisch, trank den letzten Rest des kräftigen Kaffees aus, den Herr Nipp mit seiner neuen Edelstahl-Bialetti zubereitet hatte. „Da sah ich eine Bewegung, dachte, das kann nur eine dieser unseligen Katzen sein, die sich bei uns nicht mehr als Mäusefänger, noch weniger als Rattenjäger, dafür um so mehr als Vögelfresser betätigen. Dabei gäbe es in den Großstädten eigentlich genug in den Kanalisationen mit Millionen Ratten und anderen Nagern zu tun. Aber darum wollen sie sich einfach nicht kümmern, aber das ist auch ein ganz anderes Thema. Diese fast zur Stopfleber verfressenen, mit bester Thunfischpastete gefütterten Mordsviecher von Hauskatzen, haben, weil sie nicht mehr in die Röhren passen und mit dem Bauchring hängen bleiben, einen grundlegenden Bewegungsmangel, den sie mit Langeweilespielen kompensieren. Ist das denn nicht schrecklich, dass sie nur die völlig verblödeten Amseln leben lassen? Naja, die superintelligenten Elstern lassen sich ja nicht fangen.“ Der Monolog gestaltete sich an diesem Morgen recht angenehm, weil Herr Nipp noch zu viel Alkohol im Blut hatte, um überhaupt artikuliert sprechen zu können, zumindest fühlte er sich so. Erst der vierte konzentrierte Kaffe brachte ihn zurück ins Gespräch. Die Themenvielfalt ließ nicht zu wünschen übrig und der Gast garnierte seine Erzählungen mit ironischen, sauerländischen und zum Teil sogar freiburger Humoresken, deren Charme sich niemand entziehen konnte. Nach über zwanzig Jahren hatten sich beide am Abend vorher auf einer Party wieder getroffen und sogleich wiedererkannt. Herr Nipp hatte ihn zum Übernachten eingeladen. Der Heimweg wäre doch sehr umständlich gewesen, angesichts dessen, dass die Wohnung des Einladenden doch nur wenige Meter von der Party entfernt lag.  „Jedenfalls sah ich in diesem Augenblick eine Bewegung vor dem Fenster und dachte schon, das ist der völlig dämliche Kater meiner Nachbarin [Die völlig überzogenen Adjektive hat der Autor dem Sprecher übrigens in den Mund gelegt, damit die Drastik der Mimik auf diese Weise nicht weiter beschrieben werden muss.] Tatsächlich schwang er seinen Wanst gerade über das Geländer und wollte zum Sprung ansetzen, denn auf dem Fensterbrett saß absolut verstört eine Kohlmeise. Sie hatte einen zerfetzten Flügel und der Rest hing nur noch an einer Sehne. Ich habe sie mir geschnappt, den Räuber verjagt. Musste den Flügelrest abschneiden, habe das kleine verstörte Wesen verarztet, soweit es ging jedenfalls. War aber erfolgreich, der Vogel hat überlebt, konnte später sogar mit Zuhilfenahme des restlichen anderen Flügels vom Boden auf den Stuhl auf den Tisch springen. Diesen Winter hatte ich überhaupt keine Spinnen mehr im Keller, habe sie alle in den schmutzigsten Ecken gefunden und gesammelt. Später habe ich auch Insekten im Tiergeschäft gekauft. Der hat noch ein halbes Jahr bei mir gewohnt, bis in den nächsten Frühling, war auch eine Zeit ziemlich down, hatte wohl auch Depressionen, habe ich im Käfig dann nach draußen gesetzt, da konnte er mit den anderen Kontakt aufnehmen, die waren auch ganz interessiert und kamen zuweilen näher und haben mit ihm einen gezwitschert. Irgendwann war er dann aber weg, ich hatte nicht aufgepasst, ist er wohl doch im Magen der Katze gelandet. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“

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