Wahn und Zeit

Es gibt eine grundlegende Lebensprämisse, die jeder Mensch, egal in welcher Lage, doch immer beherzigen sollte: Gehe niemals auf eine Party, wenn du nicht trinken willst, es sei denn, du machst das als Liebesbeweis für deinen besten Freund, den du schon lange nicht gesehen hast, mit welchem du zuletzt derbe abgestürzt warst, oder als Freundschaftsbeweis für die Gruppe Menschen, die bei dir sind, weil du sie nach Hause fahren willst oder dies statt eines grundlegenden Wollens versprochen hast. Um das Theorem der grundlegenden Lebensprämisse weiter zu unterfüttern beziehungsweise aufweichend zu erweitern, kann es versuchsweise ausgedehnt werden: Wenn du schon auf eine Party gehst, auf welcher du dich nicht betrinken willst, dann nimm zwei gute Freunde mit, die das auch nicht machen werden, aber nur solche, denen du auch blind vertrauen kannst, dass sie auch tatsächlich nicht trinken werden, damit sie dich im Falle deines versehentlichen Absturzes nach Hause bringen.

Folgende Versuchsanordnung war Herrn Nipp dazu eingefallen. Den einen Freund schickst du ungefähr zehn Minuten früher los, er soll den Kernpunkt des Plans bilden. Günstigerweise wird er Posten in der Küche beziehen, nicht vor halb zehn ist an einen Beginn überhaupt ansatzweise zu denken. Zu diesem Zeitpunkt, so kann man schätzen, ist die Alkoholisierung schon ein Stückchen vorangeschritten und niemandem wird auffallen, dass alles geplant ist. Danach treffen auch die beiden anderen ein. Wie zufällig wird man sich in der Küche treffen und das Spiel beginnen.

Zunächst werden die drei mit Hilfe von Münzen so tun, als würden sie sich gegenseitig Zaubertricks mit eben diesen zeigen. Natürlich werden sie sich jeweils laut erstaunt über die Fähigkeiten der anderen Akteure wundern. Dazu muss man nichts können, am Anfang sieht sowieso keiner hin und niemand wird merken, dass gar nichts dahintersteckt. Immerhin wird mit der Aufmerksamkeit einzelner angetrunkener Besucher auch deren Neugier geweckt und wie zufällig füllt sich zusehends die Küche mit Gästen. Man begrüßt sie, füllt die entstehende Leere mit Smalltalk über das Wetter, das letzte Fußballwochenende, auch wenn man überhaupt keine Ahnung davon hat, spricht von der tragischen Entwicklung des vermuteten Lieblingsvereins dieser Partygemeinschaft, auch die neue Serie von Mercedes kann thematisiert werden, dass man sie ästhetisch für nicht ausgereift hält. All dies ist allerdings, genau wie der ganze Text bis hierhin, nur Vorgeplänkel.

Wie aus dem Nichts kommt nun der Coup. Einer der drei Nüchternen, in der Zwischenzeit haben die anderen sicherlich ein zwei weitere Flaschen Bier geköpft oder zumindest ein Gläschen Wein oder einen Cocktail beseitigt, stellt eine scheinbar abstruse These in den Raum, auf die mit Sicherheit einige besonders intelligente Nerds abfahren werden und versuchen, sie zu widerlegen. Trefflich lässt sich dann die Zeit totschlagen. Die Theorie geht davon aus, dass ein solches Gespräch gut die Dauer von einer Stunde haben kann, dass man die Stimmung mit unterschwelligen und daher nicht als solche auszumachenden Beleidigungen aufzuheizen hat, dass die Anheizer dabei immer ruhiger und konzentrierter vorgehen, sich jeglicher Hitzigkeit durch persönliche Kälte entziehen und es zum Abschluss wegen der verwegenen Behauptung, die anderen ließen sich doch nur von ihrem eigenen Erleben blenden, sie ihre Behauptungen in keinem Fall wissenschaftlich untermauern könnten, zu durchaus tumultartigen Szenen kommen kann.

Wir Menschen stellen zwischen verschiedenen Ereignissen kausale Zusammenhänge her, auch wenn sie gar nicht bestehen. Wenn dem Menschen die Zeit bewusst wird und er merkt, dass er sterblich ist, erzeugt dies Angst. So entsteht Religiosität. Genau diesen Aspekt kann man für Versuche nutzen.

Als Herr Nipp auf dieser Party den Satz äußert, die Raumzeit sei letztlich körnig und dies mit dem Hintergrundrauschen bei allen Messungen begründet sowie eine Kontinuität eines gedachten wie erlebten Fließens noch niemals bewiesen werden konnte, ist ihm noch nicht bewusst, welche Sinnkrise er damit bei einigen der Gäste auslösen wird.

Mit Einsetzen der ersten diskursiven Ausfallerscheinungen verlassen die drei die gerade frisch renovierte Wohnung, die, das ist an dieser Stelle auf jeden Fall absehbar, kurzfristig neu zu spachteln wie zu streichen sein wird.

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