Futter und Fütterer

Fast jeden der anstehenden oder kommenden, der verlebten und verbrachten  Sonn- und Feiertage nutzt Herr Nipp, um in die Natur zu gehen oder mit dem Fahrrad zu fahren. Dabei gibt es ein Ziel, das seit Kindertagen schon immer wieder einmal angesteuert wird, der Park mit Tieren an einem der nahen Stauseen. Dort gibt es neben diversen Hühnern und Fasanenvögeln, Ziegen und verschiedensten Schafen auch ein riesiges Areal, auf dem sich drei Hirscharten tummeln. Dam-, Sika und Rothirsche teilen sich das teilweise grasige, teilweise bewaldete Gelände. Alle Tiere sind den nahen Kontakt mit Menschen gewohnt. Nein, sie können den nervigen Zweibeinern, die sich am Zaun tummeln und ihre Hände dadurch stecken,  gar nicht großartig aus dem Weg gehen.

Er nimmt dann immer einiges an völlig vertrocknetem Brot für die Schafe und Ziegen, im Herbst natürlich gesammelte Kastanien und Eicheln oder wie jetzt im Frühling auch mal Gemüse mit, welches er im Kühlschrank liegen hatte und das zum Selbstverspeisen vielleicht nicht mehr ganz so schön ausschaut. (An dieser Stelle muss der Autor, der ja bekanntlich den Erzähler als Figur einsetzt und eigentlich im Text gar nicht vorhanden ist, weil es ihn nur auf dem Buchdeckel gibt, kurz mal eben aufstehen und in den Kühlschrank sehen, ob denn noch Gemüse für den nächsten Besuch des nahegelegenen Tiergeheges vorhanden ist oder er eventuell noch schnell auf den heimatlichen Markt muss, einige Köstlichkeiten käuflich zu erwerben. – Hm, jetzt stehen wir allerdings vor einem Dilemma, denn wenn der Autor vom Erzähler als Figur eingesetzt wird, kann er dann überhaupt noch Autor sein oder ist seine Existenz etwa auch fiktiv? Wer schreibt dann die Geschichte? Gibt es einen Autor und einen Figurautor? Was, wenn jener in das Leben des anderen eingreift und umgekehrt?)

Dann steht er, (nicht der Autor, sondern unser Protagonist) am Zaun, füttert die großen Tiere, dabei am liebsten die Rothirsche und versucht sie durch den Zaun ganz heldenhaft auch zu streicheln.

An diesem Feiertag, der irgendwas Altertümliches abbildet, sich alte Ängste zunutze macht,  hat er sich mit seiner Begleitung gut vorbereitet, so einiges eingesteckt, auch Möhren und Weißkohl. Die Hirsche kommen sehr schnell, bemerken, dass es endlich mal was anderes gibt als das eklig trockene Brot, welches sowieso immer Darmkoliken auslöst.

Sie füttern, sie futtern in aller Ruhe, völlig in sich versunken, streicheln die imposant großen Tiere, lassen sich von den noch größeren Tieren streicheln,  welche so früh im Jahr ein ziemlich struppiges Fell haben, welche so spät in ihrem Leben kaum noch Fell haben. Die einjährigen Tiere stehen immer in zweiter Reihe, ob zum Schutz oder weil die Alten gieriger sind und keine Hemmungen haben, kann Herr Nipp selber nicht sagen. So gut sind seine Beobachtungsfähigkeiten einfach nicht, aus den jahrlangen Beobachtungen auch noch irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen und Vermutungen sind einfach nicht sein Ding. Bei den Zweibeinern ist es genau umgekehrt, die kleinsten stehen am dichtesten mit ihren großen Kulleraugen und verzückten Blicken am Zaun. Die männlichen Tiere (also die Vierbeiner, nicht die Zweibeiner – nur damit das auch jeder versteht) haben ihr Geweih im Gegensatz zu den Dam- und Sikahirschen schon vor einiger Zeit abgeworfen, längst beginnt unter dem weichwarmen Bast ein neues zu wachsen. Mit unglaublicher Geschwindigkeit.

Zwei sehr gut mit buntglänzenden Modestücken der erdölabhängigen Kunsttextilindustrie gekleidete Frauen kommen mit ihren puppenhaften Kindern näher, überlassen jenen kleinen zarten Wesen die Vorräte, damit diese den Tieren ihre Speisen zukommen lassen sollen. Plötzlich schnappt sich die etwas ältere der beiden eines der Kinder und zieht es ruckhaft vom Zaun zurück. Lautes Empörungsgebrüll des süßen Balges folgt. Verwundert schauen Herr Nipp und seine Begleitung zurück und verfolgen den folgenden Dialog. (Jegliche Kritik an dieser Stelle, die Einleitung sei zu lang gewesen, möchte ich unterbinden. Sehen wir diese Geschichte der Einfachheit als kleinen Teil eines über tausendseitigen Romans, dann ist es doch fast schon freundlich, solcherart Erläuterungen so kurz zu fassen. Es soll ja sogar Romane geben, welche die gleiche Geschichte mehrfach wiederholen und gerade dafür von Leserinnen geliebt werden, gerade wenn es sich um detailreiche Schilderungen bestimmter Praktiken geht, bei denen auch Peitschen und Stricke verwendet werden. Und ich meine hier ausdrücklich nicht Rodeos in Amerika.)

„Glaube de Dinger sin krank oda so, besser, wenn de Kinder se nich anpacken tun.“ „Warum  solln se denn krank?  Hätte da aufem Schild gestanden oder se hättn n Park gesperrt.“ „Den könnse nich sperren, weil diss is n öffentlicher Weg.“ „Wie kommste denn daarauf?“ „Na, Ding da hat n paar Mal geniest und de andern haben scheel geguckt, als wüssten se ganz genau, dass alle bald tot sin. Apropos geweiht, haste bemerkt, dass die Hirsche alle kein Geweih haben? Die ham schwere Grippe, dass den de Dinger vom Kopf gefallen sin.“ „ Ach so, das meinste. Nee, da brauchste keine Angst. De werfen de Dinger immer zwei drei Mal im Jahr ab. Ich glaube im Frühling und im Herbst und manchma im Sommer.“ „Weißte noch letztes Jahr, da hattense im Herbst auch son Keuchhusten. Aber haste die ekligen Geschwüre am Kopf gesehen, da komm sogar schon Beulen raus. Nee, das is gefährlich.“

Es gibt Tage, da würde sich gerne Herr Nipp  in fremde Gespräche einmischen, inzwischen weiß er allerdings, dass genau das nicht so gut ankommt. Ein weiteres Pärchen kommt dazu und moniert, dass die Hirsche kein Brot bekommen sollen. Er sieht seiner Begleitung tief in die Augen und beide wissen, dass es genau jetzt besser ist, schnell zu gehen.

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