Das Verbleiben

Als Herr Nipp an diesem Morgen aus wie neunmonatigem ruhig traumhaftem Schlaf erwachte, fand er sich auf einem Sofa im Atelier eines Freundes endlich einmal ausgeschlafen. Er lag auf seinem durch diverse Zwischenfälle malträtierten Rücken und sah, ohne auch nur die kleinste Bewegung machen zu müssen, die Decke einige Meter über sich, unter welcher sich samtig bepudert die Fäden der Zitterspinnen der letzten Jahre im leichten Zug der Heizungsluft bewegten. Auch hatten sie wohl einige Beutestücke fein eingewoben aufgehängt, die Vorratskammer von Wesen, die nicht für den Moment lebten.

So oder so ähnlich hatte er sich das immer vorgestellt, wenn irgendwann einmal jemand über ihn schreiben würde. Dabei war er tatsächlich in diesem Moment wach geworden, hatte mit dem Schweifenlassen der Augen, dann leichten Kopfdrehungen die Umgebung sondiert, die ihm auf den ersten Blick seltsam fremd und gleichzeitig so vertraut heimelig erschien (Trivialautoren bemühen sich oft krampfhaft um solche stilistischen Mittel wie das Oxymoron, da sie ein profundes Wissen um die Mechanismen der Literatur vermuten lassen. Also erfinden sie auch gerne irgendeinen Neologismus und errichten diesen dann wie ein auf den Sockel erhobenes Denkmal über die menschliche Schöpfungskraft an besonders exponierter Stelle des Textes oder wiederholen diesen gar so oft, dass dem zunächst geneigten Leser schlecht wird.).  Überall konnte er Bilder sehen, die teilweise in ganzen Stapeln herumstanden, an die Wände gelehnt waren, auf Tischen lagen oder sogar richtig hingen.  Einige rechteckige Leinwandfetzen waren hochkant mit dünnen Nadeln fein säuberlich aufgereiht an die Wand gepinnt worden, so dass sie den Anschein erweckten, als würden sie über ihren eigenen Schatten schweben und gemeinsam ein fraktales Bild ergeben, welches eine verschlüsselte Geschichte erzählte oder zumindest eine Botschaft enthielt, die nur Eingeweihten einen Sinn ergeben könne. Figuren, Tiere, Figurengruppen, Zeichen und fast abstrakte Elemente schienen einen Reigen, vielleicht einen Totentanz zu vollziehen. Bedeutungshafte Blicke sprangen den Betrachter an, andere Figuren schienen sich über die Bildränder hinweg aufzufordern oder gegenseitig zu beeindrucken. Immer aber schien der Untergrund jedes einzelnen Motivs wie aus einem anderen Bild geschnitten. So als müssten nur diese Bilder wieder richtig gefügt werden. Ein vertracktes Spiel, welches der Künstler hier trieb. Nichts erschien seinem Auge fest und standhaft, alles war wohl dem steten Umkomponieren unterworfen, so als würde diese Ansammlung stets eine Erweiterung finden wollen, sich selbst aus den eigenen Geschichten ergänzen. Teilweise schien sogar das Abtupfen eines verschmutzten Pinsels zur Grundlage einer kleinen Bildmelodie zu werden, gefasst durch Lineaturen, die sich mal verdichteten, dann teilweise ganz auflösten, aber immer Freiraum zum Denken ließen. Eine eigene verschrobene Bildsprache, die mit den Partikeln unseres Alltags spielte. Er konnte sich kaum satt sehen, musste immer wieder die Augen kreisen lassen. So als würde man mit den Fingern die raue Oberfläche eines kristallinen Gebildes erspüren, die Kanten abtastend, die Spitzen schmerzhaft. An den gebrochenen Rändern dann einen Rahmen für all die Eindrücke zu finden, zurückzukehren zu den haptischen Sensationen, die sich der Haut boten. Diese Bildserie war ein Buch, ein offener Roman, ein unlesbares Langgedicht, das sich immer immer schlüssig neu erfand. Jeder Betrachter konnte hier seine Sichtbahnen ziehen, die Augen wandern, springen, ja sogar tanzen lassen. Minutenlang betrachtete Herr Nipp dieses wundervolle Werk, nur auf den ersten Blick unbekümmert naiv, fühlte sich in alte Zeiten zurückversetzt, damals, als er als Kind noch tagelang über den immer gleichen Bildbänden brütete und sich seine Welt zurechtzimmerte, feste Ansichten ganz bewusst oder manchmal wie nebenbei wieder zertrümmerte, die Betonblöcke des Seins visuell zerlegte, ein Schlagbohrer, ein Zerleger des Gehabten.

Unter Teilen der Decke entspannte sich ein riesiges Werk auf einem Gazestoff wie ein religiöser Baldachin, der auf Prozessionen getragen wird. Darauf konnte er Zeichen ausmachen, die ihm zwar irgendwie bekannt vorkamen, deren Bedeutung er allerdings nicht annähernd zu entschlüsseln vermochte und dies auch nicht wollte. Er nahm die Gegebenheiten (auch dies ein sehr literarisches Wort) so hin, wie sie waren.  Nicht mehr wissend, wie zum Teufel hier der Schlafplatz entstanden war, stand Herr Nipp unter dem üblichen Keuchen auf. In den vergangenen Jahren war es zu einer lieben Gewohnheit geworden, alle grundlegenden Positionswechsel mit diesen ächzenden Geräuschen zu verbinden, als sei er ein alter Mann, dabei befand er sich doch wirklich in seinen besten Jahren, wie landläufig so gerne kolportiert wurde. Er musste feststellen, dass der Boden sicheren Halt bot, nichts erträumt schien, setzte sich wieder und begab sich erneut in Rückenlage, indem er die Beine in die nächtliche Ausgangslage zurückbeorderte.

Auf den Tischen waren Werkzeuge, ganze Heerscharen von in Bechern stakenden Pinseln und Farbflaschen auszumachen, Tuschebehältnisse, Schellackdosen und Eimer mit im Zwielicht des dämmernden Morgens seltsam glühend erscheinender Farbe, aber auch fremd anmutende Gegenstände aus billig blitzendem Plastik, sogenannte Winkekatzen wohl chinesicher Produktion und eine ganze Feuerzeugsammlung, irgendwo in der Ecke des Raums eine Modepuppe, welcher eine Hand fehlte. Diese grazile Extremität hatte er letztens noch auf seiner Fensterbank zu Hause gesehen, da war er sich ganz sicher. Der Boden war im Umfeld seiner Lagerstätte mit einem fadenscheinigen alten, aber handgeknüpften Teppich bedeckt, an anderen Stellen handelte es sich um nackte Asphaltsteine wie in einer Fabrik. Teilweise hatte der Künstler auch auf den Boden geschrieben oder Schablonen ausprobiert, teilweise hatte er auch einfach gekleckst. Ein sympatischer Zustand, dem sofort anzusehen war, dass hier ernsthaft gearbeitet wurde, ohne dass die helfende Hand einer Putzfrau auch nur den Anflug einer Chance gehabt hätte. Dies war kein Quasiatelier, wie Anfänger es sich künstlich einrichten, weil sie der Meinung sind, es habe so auszusehen. Dies war auch nicht ein kaltes Loch, das eine andere Art von Künstlern sich schafft, damit sie sich in ihrem Arbeiten niemals zu Hause fühlen, sondern dieses immer wieder existenzialistisch befragen. Dies stellte sich ihm als gelebter und gewachsener Raum, als Habitat dar, dem jedes Fehlen einer Kleinigkeit einen neuen Charakter geben würde. Natürlich, dessen war sich Herr Nipp sicher, hätte sich mit dem Ausmisten überflüssiger Tische und Regale eine bessere Ausnutzung der Örtlichkeit ergeben können. Natürlich würde der Nutzer nie wieder alle diese Hundertscharen von CDs hören, die Stapel an urtümlichen Kassetten. Nicht mehr gelesen erschienen ihm auch die Bücherreihen, abgesehen von eingen Gedichtbänden, die sich auf dem Schreibtisch türmten. Alles aber trug zum Eindruck bei, dieses hier sei ein Intimraum, vielleicht wichtiger als das Wohnzimmer, in welchem letztlich doch nur der Fernseher jegliche Aktivität regiert.

Aus dem Augenwinkel war jetzt auch eine Bewegung wahrzunehmen, da stand jemand, nein er saß wohl, denn die Größe stimmte für eine stehende Person nicht, vor einem Bild und trug in aller Ruhe mit einem Spachtel seltsam unruhige Farben auf eine Leinwand, eine Hand entstand, das war aus der feinen Vorzeichnung schon zu erkennen. Herr Nipp hätte sich gewünscht, dass die jung erscheinende Person jetzt das messerartige Werkzeug zur Seite gelegt hätte, diesen Vorstellungszustand mit freien Flächen genau so erhalten hätte, aber es erschien schon jetzt klar, dass der Junge die ganze Fläche vollspachteln, zuspachteln würde, da ja dann wohl erst ein Bild fertig ist. Tatsächlich gibt es Menschen, die glauben, ein Bild sei fertig zu malen, der Künstler habe über den Abschluss zu bestimmen. Das Werk allerdings, das sollte jeder Denkende doch einfach begreifen, wird erst vom Betrachter beendet. Ein perfektes Bild aber lässt keinen Raum zur sehenden Kreativität. Die Leerstellen bestimmen erst die Möglichkeiten eines Bildes.

Die Augen wieder schließend, konnte er sich auf die Geräusche des Umfeldes konzentrieren. Auf das Schaben und Kratzen, welches aus der Bewegung des Werkzeugs auf dem Klangkörper Leinwand entstand, die gedämpften Töne von außerhalb, die Kraniche, die über das Haus gen Norden flogen und mit ewig sehnsuchtsvollen Schreien den Frühling verkündeten. Und es war ihm eine Bestätigung seiner neuen Träume und Absichten, als er sich am Ende dieses Vorgangs nicht erhob, sich nicht streckte, sondern in gehabter Haltung verblieb.

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