Gezeitengespräch XXXIII

Zeitfern: Fragen wollen wir beantworten. Ja. Nicht jetzt. Da drängen andere „Sachen“. Heute ein Gespräch gehabt mit einem geschätzten Menschen. Sie hat vor Wochen ihren Mann verloren. Tot. Ja. Plötzlich ist alles anders. Kein Arm in der Nacht. Keine Worte mehr. Kein wehendes Nachtlicht. Wir mittendrin in der Erinnerung. Die Zeichen auf ihrem Gesicht: Keine Blume oder Taube. Erinnerungen der Winde. Alles kehrt wieder. „Der Tod fände sich reiner zurecht“, sagt Rilke. Wir sezieren das Leben. Alles ist Vergangenheit. Alles beginnt jetzt neu. Schön gesagt. Der Kopf will nicht. Vergiss, vergiss es und stehle dich fort. Doch das Schwarz ist in den Ohren: „Der Sterbetag“. Das Dunkle gebe ich dir. Sein feinster Flügel: Ist Atmen, ist Rede, sind Wörter. Erinnerung — gleich Geräusch, sagt Sartorius. Wie soll man so viele Jahre in drei Stunden besprechen? Doch die Zeit danach ist lang. Und nach vielen Wörtern singt die Geige wieder. Mein lieber Zeitnah, bin etwas traurig. Doch eine Frage wäre beantwortet von dir: Warum können wir uns freuen? Es gibt nur diese Antwort im Kontrast.

Zeitnah (hiesig): Einfach gesagt, könnte ich jetzt schließen, hier an dieser Stelle einen Schlussstrich ziehen, weil sich aus deiner Betrachtung ein Rekurs auf den Anfang unseres Gespräches einfach herstellen ließe. Die Betrachtung der Vergangenheit, jene Beton- und Strohrollen, auf denen wir hin und her gesprungen sind. Ganz selbstverliebt und der Gefahren nicht bewusst, die uns das Leben, die Jahrzehnte, die Bekannt- und Liebschaften bringen sollten. Aber das wäre wohl nur ein billiger Trick. Schnell einen Rahmen setzen, damit alles eine Wohlordnung hat: Ja sicher, das wäre möglich, und du, mein Lieber, wirst das wohl einkalkuliert haben. Aber dann drehst du diese in sich kreisende Sehnsuchtsmusik auf, die nach Bildern verlangt und ich sehe, wir sind lange nicht am Ende. Tod. Ja, auch damit können wir leben, denn „Es sterben immer nur die anderen.“ (Montaigne) Und wir haben die Aufgabe, die Erinnerung nicht der Geschichte preiszugeben, sondern Schlüsse zu ziehen und diese weiter zu reichen. Es gibt keine Antwort, da es keine Frage gibt, da beißt sich der Hund oder die Katze, die verteufelte Schlange in den Schwanz. Was wir nämlich immer noch nicht verstehen, das Leben an sich.

Zeitfern: Doch so wollen „wir“ nicht enden in unserem Gespräch. Diese vielen Varianten im Leben, schön, hässlich, da kann ich die Wellen wahrnehmen. Deine Frage. Gibt es ein Flattern der Wellen? Im Zwinkern der Augen ja. Doch die Schatten sind gesprächiger. Das Licht hat andere Wörter. Einen blauen Glanz. Kühle im Blinzeln am Strand. Urlaub, ich laufe in das Wasser, bewundere die Fußspuren. In den Bergen ist das anders. Man muss genau hinsehen auf den Wegen. Da ist dieser glatte Felsstein. Geschliffen von vielen, ganz vielen Schuhen. Man weiß: Hier sind Menschen gelaufen. Nach oben. Der Rest vor dem Himmel.

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