Gezeitengespräch XXVI

Zeitfern: Hast du das auch? Plötzlich hat man das Gefühl, es geschieht etwas. Man wartet darauf. Doch nichts. Welche Gedankenverknüpfungen im Kopf lösen das aus? Keine Erklärung. Es geschieht nichts. Auch eine Langeweile nicht. Die trägt man mit rum. Manche Gegenstände fliegen oder fallen. Ich erinnere mich, als meine Mutter starb. Ich fuhr mit dem Zug zu ihr. Sie lag daheim. Ich schlief die letzte Nacht ihres Lebens neben ihr. Haut an Haut. Hatte einen seltsamen Traum, aus dem Schlaf gerissen, weil sie sprach, dann schlief ich wieder ein.  Ich ging über eine Brücke aus Stein. Bei jedem Schritt öffneten sich Löcher. Ich tänzelte. Hin und her. Große Grasbüschel fielen herunter, wurden aufgefangen von Netzen. Diese hingen unter der Brücke. Auf verschiedenen Höhen. Und wieder wach, die Füße meiner Mutter strampelten, so als ob sie weglaufen wollte. Ich hielt sie an der Hand. Dann schlief ich wieder ein. Die Grasbüschel in den Netzen hingen noch da. Bewegten sich hin und her. Am Morgen war sie tot. Alles flog, alles hing rum. Gras und Haut. Ist 40 Jahre her. Heute weiß ich, Gras und Haut sind auch andere Lieben.

Zeitnah (hier und heute): Wir schreiben, reden und träumen uns um Kopf und Kragen. Die Erinnerungen verschmelzen mit der Realität. Die Vergangenheit wird mit jedem darüber Reflektieren verändert, neu interpretiert und vor allem mit Lügen gefüllt.  Als meine Mutter wusste, dass sie bald sterben würde, sah sie mich fast vorwurfsvoll an. Erst später wurde mir bewusst, dass es nicht um den Tod an sich ging, sondern darum, dass sie Wichtiges nicht mehr würde sagen können. Welche Geheimnisse sie mitgenommen hat, das weiß ich nicht.

Zeitfern: Das heißt, wenn wir leben, können wir etwas Wichtiges sagen. Aber was ist wichtig? Und was wollen wir unbedingt noch sagen, so kurz vor dem Tod? Zenit. Alles bricht. Nicht am Sonntag: Da ist sonnenweiß am Morgen. Sie lacht beim Kaffee. Berührt die Füße. Lustvoll in mir und zärtlich. Wir trinken und lächeln. (21 Jahre in der Erinnerung). Anhauch müde in den Augen. Liebe der Nacht in den Muskeln. Wir lachen am Morgen. Worte ja und egal, nichts, was will ich Wichtiges sagen, wenn ich sterbe. Es wird nichts geben.

Zeitnah (ja, jetzt):   Wir müssen erst den Tod abhandeln, um zu den Genen zu kommen. Das ist die Antwort auf all das, was du geschrieben hast und ich nie las.

Zeitfern: Ignorant. Natürlich hast du es gelesen. Deine Antwort: „Echt krass.“ Der Tod ist kurz. Also viele Wörter beschreiben das kurze Ende. Und Ende ist vorbei. Nicht mehr denken können. Nichts. Auch nicht etwas. Man könnte Millionen Wörter verwenden. Für das Ende. Ich spare das aus. Wörter für das Leben gibt es noch viele. Das handelnde Prinzip sucht das leidende Prinzip. Die Fülle liebt die Leere. Ich stelle die Lichter um. Jetzt, Februar, der warme. Vögel baden sehr früh. Ich höre jetzt: Warme Winde, Singen in offener Winterjacke. „Deine Gewalt ist nur deine Suche nach Liebe. Ein stummer Schrei.“ (tote Hosen) Die Sprache enthält kein Wort, auf das es ankommt. Aber es gibt dieses Fieber. Wenn ich male. Es verhindert die Form. Der Tod, wo bleibt er? Egal. Töte mich morgen, lass mich heute noch am Leben. Lalie Lalu.

Zeitnah (ja, hier):  Zwei Dinge, die mir immer wieder auffallen? Erstens dieses doch so offensichtliche Spiel mit der Dualität: Ja oder nein, kurz oder lang. Alles muss seinen Gegenpol erhalten, auch Leben und Tod. Und das glaube ich einfach nicht. Es gibt nicht nur das Sein und das Nicht-Sein, sondern viele Stufen dazwischen, zwischen rau und glatt liegt fast schon glättlich.

Die andere Seite mit der Behauptung fehlender Sprache, neuer, was dabei herauskommt sind Bilder jenseits des Sprechaktes, als sichtbares Manifest des ICH WILL.

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