Nebelbankgedanken endlos

Völlig übermüdet sollte kein Auto, ja, kein Fahr- oder Flugzeug gesteuert werden, denkt sich Herr Nipp. Er hat seine Anlage bis zum Anschlag aufgedreht, hört abwechselnd Stücke von Radiohead, Muse und Bach. Der Rückspiegel wackelt im Rhythmus der hämmernden Bässe. Obwohl es draußen neblig-kalt ist, hat er das Fenster geöffnet, heruntergekurbelt kann man nicht sagen, denn es gibt keine Kurbel mehr in den modernen Autos, schon gar nicht so ein Klappfenster wie in der liebevoll so titulierten Ente. Lässt sich die feuchtschauerliche Luft um die Nase wehen, die Augen tränen, so wie eigentlich immer, wenn gerade „Creep“ läuft. Zweimal hat er auf den letzten Kilometern am Autobahnrand Kreuze bemerkt. Diese Strecke scheint unfallträchtig zu sein, wahrscheinlich macht wohl der hier häufig auftretende Nebel müde, geht es ihm durch den Kopf. Gedanken sind in solchen Situationen wohl das wichtigste Hilfsmittel, um sich abzulenken, der Müdigkeit ein Schnippchen zu schlagen und damit auch dem Sensenmann, der diese Strecke offensichtlich liebt.

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Früher hatte er immer Angst, wenn sein Vater mit dem saharafarbenen 200er Mercedes durch Nebelbänke fuhr. Rauschte. Vorne vielleicht 50, oft auch nur 30 Meter Sicht, aber unerschütterlich flott hatte der Mann am Steuer wahrscheinlich ein ganz besonderes Navigationssystem, auch wenn schon allein dieses Wort damals nicht oder nur Seeleuten und Flugzeugpiloten bekannt war, um die Strecke einzuschätzen. Er kannte einfach jede noch so kleine Biegung, jede scharfe Kurve auswendig und wusste, wie das Lenkrad zu bewegen war, da gab es für den Sohn keinen Zweifel. Das schon. Aber Angst hatte er trotzdem, große Angst, so richtig Schiss. Also begann der hinten sitzende Junge irgendwann die Seitenpfosten zu zählen, die waren schließlich zu erkennen. Wenn auch sonst nichts. Einmal hatte er wohl bemerkt, dass sich gerade neben dem Auto ein Reh aus dem Nebel schälte. Selbst ziemlich erschrocken blickte, noch mal davon gekommen. Den Jäger im Rücken wahrscheinlich mit Selbstmordgedanken.

Normalerweise konnte er allerdings gerade mal die Pfosten, die Straße direkt vor dem PKW sehen. So eine richtige Limousine mit riesigem Kofferraum war es, wie damals bei Mercedes üblich. Zu der Zeit gab es von dieser Firma noch keine Kombis. Das wäre wohl verpönt gewesen, zu modern.

Oder er zählte die Schlagzahl der Mittelstreifen, die sich weiß vom schwarzfeuchten Asphalt abhoben, wackelte in deren Rhythmus mit seinen Füßen, trat den Takt, als habe er Autismus oder Hospitalismus. Oder als sei er ein Schlagzeuger, der sich durch nichts aus diesem Takt bringen lässt. Oder er hielt seinen linken Zeigefinger in eine bestimmte Höhe vor das nicht zu gekniffene Auge, ja, er konnte stundenlang ein Auge schließen und nur mit dem anderen sehen, und stellte sich vor, wie es wäre, wenn der gesamte darüber befindliche Baumbestand mit einem Laserstrahl gefällt würde. Ganz ordentliche Landschaft von seiner Position aus. Eine exakte Gerade als Horizontlinie. Er malte sich aus, dass er eine Möglichkeit erfinden würde, all die gespeicherte Energie in eine kleine Kugel, nicht größer als ein Tischtennisball, aufzunehmen, mit dem man irgendwann die ganze Welt versorgen könnte. Es mag sich vielleicht komisch anhören, aber tatsächlich machte sich Herr Nipp schon als kleiner Junge darüber Gedanken, wie die Energie von Blitzen zu nutzen sei. Erst sein späterer Physiklehrer mit dem riesigen Schnauzbart, der ihn wie eine Robbe aussehen ließ, brachte ihn mit allerhand Realismus von diesem Gedanken ab. Energie komprimieren, ja, das würde die Zukunft sein. „Wie soll denn das gehen?“, hatte sein Vater irgendwann einmal gesagt. Ungläubig, zweifelnd, fast abwertend. Ein Zweifel, der nagte. Irgendwann würde er schon einen Nobelpreis dafür kriegen, hatte er damals gedacht, aber es gibt schließlich so viele andere Gedanken, die außerdem realisiert werden mussten. Alles Gedanken, um sich von der grundsätzlichen Angst vor dem Autofahren abzulenken.

Eigentlich hatte er immer Angst, wenn es durch die Landschaft ging, wurde ihm dann schon allein aus Prinzip schlecht, nicht aus Notwendigkeit. Aber wenn er so aus dem Seitenfenster schaute, die Seitenpfosten zählte, dann konnte es schon passieren, dass ihm schwindlig wurde und die Folge war dann eben doch zwangläufig; ihm wurde massiv schlecht. Nicht so ein Schlechtsein, das man dann verdrängen kann, sondern das echte Schlechtsein, das nur mit übelstem Erbrechen behoben werden kann. Ja, muss. So hatte er sich mehr als einmal in den vom Vater so heiß geliebten Wagen übergeben, manchmal auch noch gerade rechtzeitig das Fenster herunter gekurbelt und im Fahren nach draußen gespien. Damals gab es schließlich noch Kurbeln, in den siebziger Jahren.

Herr Nipp hatte auch alles andere gezählt und sehr viel Freude daran, seine Auszählungen irgendwann prozentual auszuwerten. Das konnte er schon mit neun Jahren fast perfekt. Selbst beigebracht versteht sich, vielleicht hatte ihm auch sein Bruder geholfen, das war jetzt nicht mehr so genau zu bestimmen. Aber dazu vielleicht später, irgendwann vielleicht einmal.

Einmal hatte er in einen Hundehaufen getreten, der Gestank mischte sich mit dem Pfeifenrauch des Vaters und konnte eigentlich so nur zur Katastrophe führen. Diese würzige Mischung wollte eine Abrundung, nicht das aufdringliche Parfüm der mitfahrenden Großtante, sondern die Magensäfte, die unschlagbar waren. Das zog eine ebenso folgerichtige Ohrfeige nach sich. Damit konnte schließlich auch der krankeste Junge der Welt zur Vernunft gebracht werden.

Später war Herrn Nipp durch seine ununterbrochenen Verhältnisauszählungen bewusst geworden, dass sich der Anteil bunter Autos im Straßenverkehr zusehends verringerte. Immer langweiliger wurden die Farben, kein Orange mehr, kein Leuchtgrün und schon gar kein Hellblau. Auch kamen neue Marken hinzu, viele Japaner plötzlich. „Weil die so billig sind!“, sagte sein Vater immer. Der Anteil der Enten nahm ab, der Anteil der Käfer auch, der Anteil von Opel, und Simca war plötzlich ebenso verschwunden wie die letzten RO 80 und die typisch gelben DAFs. Vielleicht war dem kleinen Nipp schon viel früher als anderen bewusst, dass die Welt immer bestimmten Veränderungen unterliegt. Auch saßen immer mehr Frauen hinter dem Steuer, sogar manchmal die eigene Mutter, die erst mit 42 den Führerschein gemacht hatte. Dann hatte er noch mehr Angst.

Auch die Landschaft unterlag langsamen Veränderungen, so wurden nach Kahlschlägen auch wieder Laubbäume gepflanzt oder Mischwälder. Tatsächlich besannen sich wohl einige Waldbesitzer darauf, dass die Wälder eben nicht nur Wirtschaftsflächen sind, sondern Lebensräume. Vielleicht bekamen sie aber auch irgendwelche Förderungen hierfür. Was sicherlich wahrscheinlicher ist. Plötzlich bekam auch das kleinste Sauerländer Bergdorf eine Ampelanlage, die Zeit der Kreisverkehre sollte später kommen.

Herr Nipp konnte sich auch immer wieder gut daran erinnern, wie die Armatur des Autos damals aussah, er hatte sich in meditativer Kontemplation in die Betrachtung damals vertiefen können, um so vielleicht einen heilsamen Schlaf zu erhalten, der ihn vor Angst und Reisekrankheit bewahrte. Nur, um dann zu Hause angekommen, mal mehr, mal weniger sanft aufgeweckt zu werden.

Als Herr Nipp dieses Mal aufwacht, kann er sich glücklich schätzen, abgesehen von der langen Schramme, die sich über die gesamte Autoseite links zieht, ist er heil davon gekommen. Die Leitplanken haben ihr Werk richtig und sinnvoll vollbracht und ihn sanft  die Autobahnabfahrt herunter geleitet. Für ihn wird kein Kreuz aufgestellt werden, erstmal nicht.

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