Bergrücken II

Wanderungen in den achtziger Jahren sind Erlebnisse unter Bedingungen, die für viele Jugendliche und gar Kinder gar nicht mehr vorstellbar sind. Ohne Mobiltelefon. Keine schnellen Telefonate, nicht einmal eine SMS oder Mail.

Nicht jeder hat eine Kamera zur Hand, sondern nur einer und die nicht digital, sondern analog. Die Fotos konnte man erst nach dem Urlaub sehen, nicht sofort auf einem kleinen Bildschirm. Er referiert also über ein Erlebnis, das ihm damals passierte. Gerade zwölf Jahre alt geworden in jenem Jahr, durfte er mit ganz oben an den Berg. Das war damals eine große Sache. Sie waren mit einer achtköpfigen Gruppe zu einem Berg gewandert, die ersten Höhenmeter hatten sie mit dem Lift zurückgelegt. Damals gab es noch Lifte, in denen man stehen musste, zu zweit. Sie sahen aus wie Affenkäfige und wurden von den meisten Touristen auch so bezeichnet. Es ist für einige Menschen schon eine riesige Überwindung im Lift zu sitzen, aber auch noch zu stehen, dabei nur ein Geländer vor sich, nicht einmal hoch und ein paar Streben. Nicht gerade der Traum von Sicherheit. Aber aus unerfindlichen Gründen ist doch wohl niemandem je was Schlimmes passiert. Diese Gondeln konnte man im Übrigen sehr schnell zum Schaukeln bringen, ein riesiger Spaß für Kinder, welche die Folgen nicht überblicken können. An jedem dritten Pfosten hing denn auch ein Schild mit der Aufschrift  „Vietato gondolare“. Oben musste eine lange Wanderung dann folgen, bis es an den nackten Felsen ging. Jeder war gut ausgestattet, hatte einen Brustgurt mit Schlinge und zwei Karabinern, damit auch immer einer von beiden im Drahtseil oder der Stahlleiter hängen würde. So sollte an keiner Stelle der Zustand einer Nichtsicherung auftreten. Obwohl noch so jung, hatten alle Mitglieder der Gruppe eine gewisse Routine. Schon seit einigen Jahren traf sich die Gruppe aus insgesamt vier Familien zum gemeinsamen Wandern und Klettern. Die Väter hatten aus Sorge um die Sicherheit irgendwann Gurte gekauft. Für die damals noch überall zu findenden Schneefelder hatte man sogar Eispickel und Spikes angeschafft. Eisfelder, die man heute kaum noch im Sommer kennt. Vielleicht sieht man sie weit abseits der üblichen Wander- und Kletterrouten in irgendwelchen schlecht zugänglichen Schluchten. Der Klimawandel aber hatte seinen Tribut gefordert. Nicht nur die Gletscher in den Alpen gehen seit hundert Jahren immer weiter zurück, sondern auch die temporären Schneefelder haben inzwischen Seltenheitswert und es gibt schon Menschen, die darüber nachdenken, die verbliebenen Stellen mit Planen sommers abzudecken, damit auch in Zukunft die Gebirgsbäche noch plätschern können. Die Spikes konnte man zügig unter die doppelwandigen Lederwanderschuhe stülpen, deren einzige grundlegende Neuerung zu den Jahrzehnten zuvor war, dass sie noch schwerer waren und eine Glasfiberzwischensohle besaßen. Das sollte eine höhere Trittsicherheit ermöglichen. Normalerweise wurden zwei Paar Socken über einander gezogen, damit man sich keine Blasen lief. Allein das Zuschnüren der Fußbekleidung gestaltete sich dabei als fast schon rituelle Zeremonie. Dieses genau zu befolgende Verfahren hätte sicherlich eher in die Riten der japanischen Samurai gepasst. Jeder Griff hatte zu sitzen, jede Bewegung wurde mit höchster Konzentration durchgeführt. Letztlich ging es darum, dass zumindest die nächsten Stunden, die ersten Stunden der Wanderung, kein Stein den Weg ins Innere finden sollte. Denn der kleinste Brösel konnte Auslöser für schlimmste Folgen sein. Verletzungen, schmerzhaft und gemein. Diese Wanderblasen, welche abends aufgestochen werden mussten und mit geheimen Salben behandelt, sorgten regelmäßig dafür, dass die Kinder aus zwei der Familien dann den Rest der Woche nicht mehr mit wandern konnten. Ja, einer der Jungs verzichtete sogar ganz bewusst auf die Sonnencreme, mit dem damals fast schon wahnwitzig hohen Faktor 7, nur damit er einen Sonnenbrand kriegen würde, nur damit er nicht mehr wandern müsse. Dass er damit gleichzeitig einen der schlimmsten Sonnenbrände heranzüchtete, die Herr Nipp in seinem Leben je gesehen hatte, war ihm vorher sicherlich nicht gewusst. Wenn die Haut dickrot aufschwemmt und Fieber die Folge ist sowie die absolute Unfähigkeit zu gehen, wegen der immensen Schmerzen, dann weiß man, ein intelligentes Kind hätte andere Wege gefunden, nicht mit zu wandern.

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