Bergrücken I

Zwischen den Tischen stehen ziemlich viele harte Stühle. Holzstühle. Man kennt sie noch von ganz früher. Schulstühle. Auf diesen Sitzgelegenheiten haben sich halbe Kinder eingefunden. Sie sind lärmend in den Raum gekommen, haben geplappert, haben teilweise ernsthaft lächerliche Gespräche geführt. Sind noch nicht volle Jugendliche, nicht mehr volle Kinder. Erschrocken merken sie seit Wochen und Monaten, dass in und mit ihrem Körper etwas Magisches vor sich geht, etwas ganz Seltsames, das sie noch nicht einschätzen können. Wer mag noch gerne an diese Zeit des Umbruchs zurück denken, als sich die ersten Körperhaare zeigten, die sekundären Geschlechtsorgane ganz deutlich wurden. Auch die Gedanken haben sich geändert, neue Synapsen, Verbindungen zwischen den Hirnzellen sind gewachsen. Die gewaltigen Verbindungen zwischen den Hemisphären wurden in dieser Zeit verstärkt. Jeden Tag kommen verwirrend neue Verbindungen hinzu. Jeden Tag bilden sich neue Denkwege. Das wissen sie vielleicht nicht, wahrscheinlich nur die ganz intelligenten. Sie merken es wohl, alle.

Sie warten auf Herrn Nipp, der ihnen einen Vortrag über ein Bergerlebnis in den frühen achtziger Jahren versprochen hat. Einige haben sogar Bleistifte oder Kugelschreiber mitgebracht und einen Notizblock. Schließlich werden sie hinterher wahrscheinlich einen Bericht schreiben müssen. Er soll ihnen von seinen Erfahrungen erzählen, die er selber als Kind, als halbes Kind wie sie, in den Dolomiten gemacht hat. Im Übrigen fühlt er sich auch über dreißig Jahre später noch mit dieser europäischen Gegend verbunden, in ihr verwurzelt, eine Art gehoffter Heimat. Als elf oder zwölfjähriger Junge war er zum zweiten Mal in den Sextener Dolomiten, die Jahre vorher hatte die Familie in den Loferer Steinbergen, Österreich, in einer Vierhäuserortschaft namens Mayerberg verbracht. Idyllische Jahre in sehr einfachen Bauernhäusern. Wegen des permanent schlechten Wetters aber hatten die Eltern und die seiner besten Freunde aber irgendwann um 1980 beschlossen, demnächst jenseits des Brenners Urlaub zu machen. Tatsächlich sollte sich in den nächsten Jahren herausstellen, dass die Zahl der Sonnentage exponential steigen sollte. Statt wochenlang den Regen im Gemeinschaftsraum zu überdauern, konnte man nun fast tägliche Wanderungen unternehmen. Doch trotz der Erwartung, war für den Jungen dieser erste Urlaub in Südtirol auch ein einschneidender Abschnitt in seiner persönlichen Geschichte gewesen. Die eigenen Erfahrungen mussten hinterfragt werden. Schon seltsam, wenn der Beginn der Pubertät gleichzeitig auch mit einem Schnitt im Urlaubsverhalten einhergeht. Hatte er vorher in den neuen Betonsilos auf den Bauernhöfen, in den Scheunen geklettert, hatte er sich dort Schürfungen und Armbrüche zugezogen, Erfolge gefeiert, würde er in Zukunft im Fels sein Glück finden.

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