Wellpappe

Schon seit einigen Jahren ist Herrn Nipp bekannt, dass man mit Wellpappe sehr vielfältige Dinge herstellen kann. So werden seit Jahrzehnten Kisten hergestellt, in denen so ziemlich alles zu transportieren ist, von riesigen Maschinen, die in Panzerpappe gut geschützt über die Meere verschifft werden, bis hin zum Umzug, dann kann auch das kleinste Porzellanschälchen sicher seinen Weg in die neue Wohnung finden. Auch hat er schon gesehen, wie vor Jahren die Designer Andreas Knoop und Jürgen Esser faszinierende Sitzmöbel, ja sogar geschwungene Sessel aus diesem wunderbaren Material herstellten. Ihre Kenntnisse gaben sie auch in einem witzigen Kursus an die Laien weiter. Die beiden Freunde hatten zu dieser Zeit immer ein freundliches Lachen im Gesicht. Partner, die sich blind verstehen. Herr Nipp war immer fasziniert, wie ihre Arbeit Hand in Hand ging. Da hatten sich zwei gefunden, gegenseitiger Ausgleich.

Vor einigen Tagen dann ein Ausflug in ein beschauliches Sauerländer Städtchen, das vielleicht ein ganz klein wenig einige Jahre, die ins Land zogen, verschlafen hat, nun aber gehörig aufholen will. Da werden Häuser eingeebnet, um neue Kaufzentren zu bauen. Mode ist natürlich besonders wichtig, das zieht kauffreudige Menschen an, die hinterher auch noch ein Eis essen oder mal kurz in den noblen Antiquitätenladen hereinschauen, an dem man schon jahrelang immer wieder vorbei gefahren ist. Jetzt stehen auch genügend Parkplätze zur Verfügung – und das auch noch mitten in der Stadt ganz umsonst. Im ganzen Umkreis gibt es keine Einkaufsstadt, in welcher die Besucher zwei Stunden kostenfrei parken können. Selbst in der ungeliebten Schwesterstadt andererseits der Ruhr muss kräftig gelöhnt werden.

 

Herr Nipp ist durch die Straßen geschlendert, wie seit Jahren nicht mehr, eigentlich nur, um von den Bekannten und Freunden ungesehen eine Pizza zu essen. In einer überdachten Einkaufspassage findet er neben dem gesuchten Lokal auch noch einen seltsamen Raum, in den immer wieder Menschen gehen und nach einer Viertelstunde entweder kopfschüttelnd oder auch lächelnd, manchmal auch ein wenig verärgert, meist aber mit zufriedenem Gesicht herauskommen. Er bestellt seine Pizza Vier Jahreszeiten, muss kurz an Vivaldi denken. An einem der spärlichen Außentische nimmt er Platz und sieht dem Treiben nebenan zu. Vor dem Laden steht ein grauhaariger Herr und spricht vorbei kommende Leute an. Nein, er kann sich wirklich nicht vorstellen, dass es sich da um einen mallorquinischen Vergnügungsclub handelt. Dafür ist dieses Städtchen noch nicht reif. Oder anders gesagt, so weit werden diese Sauerländer nicht sinken. Was also gibt es dort zu sehen. Niemand kommt mit einer Einkaufstasche heraus. Immer aber in Gespräche verstrickt. Vielleicht ist das ja eine Sekte, die um neue Mitglieder wirbt. Ober eine Partei, die ihren Wahlkampfauftakt hat. Vielleicht handelt es sich auch um einen ganz banalen Blutspendetermin des DRK. Nein, Herr Nipp hat den Verdacht, dass hier etwas ganz anderes stattfindet, aber er hat überhaupt keine Ahnung, was das wohl sein könnte.

 

Ein glatzköpfiger Mittvierziger kommt aus dem Laden heraus, hat Arbeitsklamotten an, biegt um die Ecke und erscheint nach einer Minute mit riesigen Wellpappplatten. Kaum ist er verschwunden, erscheint er ein zweites Mal, hat einen Anfangzwanziger bei sich, die beiden sehen völlig übernächtigt aus, unterhalten sich aber lachend. Wieder bringen sie nur kurze Zeit später einige Stapel dieses Material in das Ladenlokal. Ein drittes Mal erscheint der ältere mit dem zweiten und einem dritten jungen Mann. Sie gestikulieren, haben ihren Spaß. Aus dem Laden steckt eine junge hübsche Frau mit blonden Haaren ihren Kopf, ruft den dreien etwas hinterher. Die drehen sich offen sichtlich verblüfft um und plötzlich bricht es aus ihnen heraus, sie können ihr Lachen nicht mehr halten. Kein Auslachen, hier geht es um echte Sympathie. Auch die junge Frau hat eine schlaflose Gesichtsfarbe. Ihre Hände sind durch Klebeband und Farbspritzer gekennzeichnet.

 

Herr Nipp schließt aus seiner Beobachtung, dass hier irgendwas Lustiges mit Farbe stattfindet. Er verspeist in aller Ruhe seine italienische Steinofenpizza, trinkt ein Glas durchaus schmackhaften Rotweins und beobachtet weiterhin die Menschen. Immer häufiger verlassen die Besucher laut lachend oder zumindest schmunzelnd den Laden. Als er mit dem Essen fertig ist, zahlt er, steht auf und sucht nun auch selber diesen Ort auf. An der Tür wird er sofort angesprochen, von einer fremden Frau. Das ist jetzt nicht typisch sauerländisch, meint er. „Gehen Sie einfach herein, es lohnt sich.“ Der gesamte Laden ist vollgestellt von verrückten Konstruktionen, geradezu dekonstruktivistischen Architekturen, die zum Teil bemalt sind. Auch die Wände haben Farbe gewonnen. Großflächige bunte Bilder. Eine Rauminstallation gekoppelt mit Performance. Treibende und trotzdem beruhigende und vor allem atmosphärische Musik dringt durch die Lücken der Aufbauten, der DJ Onetronic aber ist nicht zu sehen, man hat ihn einfach zugebaut. Der gesamte Boden ist mit Pappschnitzeln bedeckt. Ein Laufen wie auf nadelbedecktem Waldboden. Aber man muss aufpassen, dass man nicht stolpert. Zunächst sieht er keine anderen Menschen, erst mit der Zeit kann er wahrnehmen, dass zwischendrin an einigen Stellen auch andere stehen und staunen. Sie bewegen sich dann einige Schritte und gucken wieder, zücken ihre Smartphones oder Kleinkameras. Das Staunen weicht langsam einem Lächeln, manchmal auch einem unverständigen Kopfschütteln. Die beteiligten Künstler scheint das alles nur wenig anzugehen. Sie arbeiten der Einfachheit halber einfach weiter, schnitzen Wellpappe, stecken diese zusammen und bauen immer neue Teile an oder bedecken die noch leeren Stellen auf dem Fußboden. Die junge Künstlerin malt lieber, mit dicken Pinselstrichen und kräftigen Farben bringt sie ihre Bildideen an die Wände und auf die Wellpappenkonstrukte. Später erfährt er, dass es sich um Stephanie Neuhaus handelt. Von den anderen Gästen, mit denen er unerwartet schnell ins Gespräch kommt, erfährt Herr Nipp , dass die vier schon seit 20 Stunden ununterbrochen hier arbeiten und aus einem leeren Geschäftsraum, einem sogenannten  Kunstnichts in dieser kurzen Zeit ein Gewusel gebaut haben. Zum Teil sehr schnell zusammengesetzt und wieder zusammengebrochen, an anderen Stellen sehr stabil konstruiert. Das Ganze erinnert ihn irgendwie an die Fotos, die er von Schwitters´ Merzbau gesehen hat. Manchmal unterhalten sich die Künstler auch, dann gestenreich, zeigen auf bestimmte Stellen und immer wieder kommt es zu diesem Lächeln. Ja, die Erschöpfung ist ihnen anzusehen, aber sie sind glücklich.

 

 

 

 

 

 

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