Der Stau XII / IV

Es kann kein Optimum für alle gleichzeitig geben, dachte er bei sich, noch die Chemikalien des fleischlichen Glücks im Blut. Wenn die frühlingshafte Gartenidylle, das hormongesteuerte Vogelgezwitscher, das nun von außen wieder an seine Ohren drang, als stetiger Verdrängungskampf der Individuen zu sehen ist. Fressen und Gefressen als Notwendigkeit des Überlebens und wandelhaften Fortbestehens. Was ihn hier und jetzt glücklich machte, war letztlich das Unglück eines verdrängten Nebenbuhlers, den er sogar persönlich mochte. Eines Mannes, den er vom Beziehungssockel gestoßen hatte, der sich unter Umständen etwas dabei gebrochen hatte, die Verletzungen bleiben unsichtbar, die Narben allerdings werden irgendwann sichtbar zutage treten und anklagen. Zerbrochen war die Zuversicht des Anderen, seine innere Stärke vielleicht auch, nur selten ist davon auszugehen, dass die Situation in beiderseitigem Einverständnis zustande kommt. Gerechtigkeit oder natürliches Recht kann es in dieser Gesellschaft der Unsteten nicht geben. Und ideale Gesellschaften absoluten Friedens der Individuen ist eine Schelmerei weltfremder Utopisten.

Noch Tage zuvor hatte er mit einem solchen Weltverbesserwisser gesprochen, der sich das Jean-Luc-Picardsche Ideal eines umfassend gerechten Menschen zum Vorbild genommen hatte, ohne die Abgründe auch nur ansatzweise erschließen zu können. Ohne zu begreifen, dass dies reine Fiktion war, Genauso wie niemals in den Serien die wahren Wahrheiten, gezeigt wurden, etwa welche Lektüren auf den Toiletten der Weltraumfahrer liegen. Unvorstellbar weitsichtige Wesen, die sämtliche Untiefen des sozialen Zusammenlebens erkannt und durchdrungenhaben, existieren nicht. Jeden Tag jedoch eine neue Erfahrung zu machen, selber Schwächen zu haben und in bestimmten Momenten auch zu zeigen jedoch erscheint schon wesentlich realistischer. Sein Gegenüber hatte einfach nicht verstehen wollen, dass Glück und Frieden, dass Gerechtigkeit, Freiheit und Moral nun mal keine feststellbaren, keine absoluten Werte sind, sondern immer wieder neu definiert werden müssen. Auch die Moralphilosophie kommt nicht zu eindeutigen Schlussfolgerungen, sieht man vielleicht vom kategorischen Imperativ Kants einmal ab. Aber auch dieser ist in seinen diversen Ausformulierungen als  durchaus befragbar zu kennzeichnen.

Sie hatten den ganzen Abend ihre Argumente hin und her geschoben und dieser Disput hatte letztlich bei keinem einer Änderung der Position herbeigeführt. Ein Ergebnis konnte nicht einmal ansatzweise erkannt werden, so wurde vertagt, was keiner Entscheidung anheischig werden würde. Man war letztlich übereingekommen, nicht übereinkommen zu können. Immer erfordert die Einsicht des eines auch ein gewisses einlenken des Anderen. Die Erkenntnis aber ist und bleibt in seinen Augen der sozialkulturellen Herkunft wie Übereinkunft überlassen. Wer heute noch das unumstößlich göttliche Recht aus dem Leviticus ernstnimmt, kann entweder nur einige Jahrtausende menschlicher Entwicklung vergessen haben oder sich in altgläubiger Prinzipienreiterei verstrickt zu haben, die keine menschliche Entwicklung erwünscht. Beides aber weist auf intellektuelle Degeneration hin. Er hat vergessen, dass zumindest ein Teil der Menschheit gelernt hat, dass jeder grundsätzlich gleich ist und mit seinen Macken und Tücken, mit seinen Lieben und Vorlieben akzeptiert werden muss, solange es andere nicht schädigt. Wer seine Antipathie gegen homosexuelles Leben mit dem Leviticus begründet, der wird auch nichts dagegen haben, wenn man Sklaven aus Nachbarländern kauft oder die eigene Schwester beim Menschenhandel vermarktet, der wird es auch zu schätzen wissen, wenn Leute aus fadenscheinigen Motiven vor den Toren der Stadt gesteinigt werden. Immer werden sich einige etwas gleicher als die anderen fühlen, die Begründungen sollte allerdings keine Religion liefern oder eine Ideologie, sondern das bessere Handeln.

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