Der Stau XII / II

Zur Himmelskonstellation der veränderbaren Wasserwerte war die Flasche auf der Fensterbank ein mehr als deutlicher und vor allem klarer Kontrast gewesen. Silberne Plastikflasche. Gemahnte hin, den Tag mit einem kräftigen Schluck Flüssigkeit zu beginnen, das vergaß er immer wieder, sich mit Wasser zu versorgen, dabei wusste er doch, welche Folgen es haben würde, wenn zu wenig getrunken wird. Eine Freundin hatte einmal in ausgedörrter Situation an seiner Haut gezogen und als sich diese erst ganz langsam an die ursprüngliche Stelle zurück zog, hatte sie ihm mahnend gesagt, dass man so sehen könne, wer zu wenig getrunken hat. Er. Auch den Altersheimen würde so getestet, ob die Leute tatsächlich getrunken haben oder ihren Becher wieder mal in das Becken entleert haben, weil sie zu faul sind, zur Toilette zu gehen. Zieht sich also die Haut zügig zurück, dann sehe man, dass genügend getrunken worden war. Er hatte das nicht glauben wollen und den langsamen Rückzug mit dem Erschlaffen der der Haut im Alter begründet, allerdings grundlegend falsch gelegen; hatte sich doch im folgenden Selbsttest dann herausgestellt, dass die junge Frau tatsächlich Recht hatte.

Er erhob sich, aufzustehen und die Flasche zu ergreifen, zu trinken und dann vielleicht ein langes Frühstück zu nehmen. Erst in diesem Moment gewahrte er neben sich die Frau im Bett, jene, die er seit Monaten schon angehimmelt hatte, ohne Aussicht auf eine Reaktion ihrerseits. Er hatte sich einfach nicht getraut ein klares Wort zu finden, dieses gar auszusprechen oder einfach mit einer Berührung anzudeuten, hatte nicht geglaubt, an seine echte Chance und natürlich die Ausstrahlung, die man nur haben kann, wenn man eigene Zuversicht hat. Ja, er hatte Angst gehabt vor ihr, vor den erkennenden Blicken, die ihn tiefer trafen, als er sich zuzugeben getraute.

Sie machte im leichten Morgenschlaf ein mehr als zufriedenes Gesicht, fast hatte es den Anschein, als würde ein leichtes und permanentes Lächeln auf ihren Zügen liegen, auf den wunderbar krausen Lippen, die eine Gebirgslandschaft in seiner Vorstellung bildeten und so weich die weißen Zähne umspielten. Monatelang war er in ihrer Gegenwart, jedes Mal bei ihrem Auftauchen nervös und fahrig gewesen, hatte in den schlimmsten Phasen seiner sehnsüchtigen Selbstverfransung eine Zigarette nach der nächsten geraucht. Eine an der nächsten gezündet. Hatte nicht erkannt, dass auch sie ganz unruhig gewesen war. Lieber in sicherer Distanz bleiben, als sich dem Wagnis auszusetzen, dem Wagnis eines unvermeidlichen Korbes, einer brüsken Abweisung. Ein Erlebnis, welches das mühsam über Jahre aufgebaute Selbstvertrauen nachhaltig zerrütten würde. Sie hatten sich also lieber fast täglich, dafür mehrfach oft  Nachrichten zukommen lassen, SMS und Mails mit einer immer verzwickter werdenden Sprache, die in ihrer doppeldeutigen Funktion bald nur noch vom jeweils anderen entschlüsselt werden konnte. Jedes Wort, jedes eingesetzte Zeichen konnte eine unerwartete und doch erwartete Konnotation in sich tragen. Sie hatten beide erkannt, welche semantischen Möglichkeiten in der Sprache lagen. Welche Ausdrucksmöglichkeiten und Eindrucksvariationen wurden durch die Codierungssysteme einer verliebten Sprache eröffnet. Jeder für sich erkannte es, vielmehr erhofften sie wohl die Absicht des jeweiligen Gegenübers und wollte sich die genannte, die langsam keimende und wachsende Verliebtheit selber nicht eingestehen. Das Gefühl, welches sich im Bauch einstellte, wenn einmal einen Tag keine Nachricht zukam. Wenn die Gedanken Purzelbäume schlugen, weil man sich Sorgen machte. Weil man glaubte, ein Wort habe verstimmt, habe vielleicht eine unbeabsichtigte Wunde geschlagen. Ja, sie waren über die Monate zu wahren Liebenden geworden, nicht solchen, welche nach durchzechter Nacht zu einem Onenightstand zusammenfinden, sich gegenseitig die Lust und Erfüllung besorgen und dann auseinandergehen mit dem flauen Gefühl lediglich ein körperliches Bedürfnis für einige Zeit gestillt zu haben. Mit dem flauen Gefühl etwas Falsches, vielleicht sogar Verwerfliches getan zu haben. Den Anderen für niedere Ziele ausgenutzt zu haben. Natürlich hat auch das seine Notwendigkeit, manchmal müssen die Endorphine Samba tanzen , den Tango ins Bettfinden lassen und dort in artistischen Moderndance wechseln, mit ekstatischen Verrenkungen, und in einen unstillbaren Rausch zwingen, müssen sämtliche Glückshormone auf rein körperlicher Ebene ausgelebt werden. Der Kopf kann sich selbst berauschen, wenn man den Körper die Vorarbeit nur machen lässt. Die Zuckungen zum Höhepunkte zwischen Lustausschüttung und Schmerz.

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