Der Stau XII / I

Im Aufwachen morgens hatte er noch lächeln können, hatte der flatterhafte Himmel durch das Fenster gegrüßt, sein sanftes Hellblau auf die Netzhäute geschickt, durchwoben vom lachsrosa der frühen Wolkenbänder. Über ihm die Decke, war hoch gewesen und mit jeder Minute konnte er weitere Strukturen und neue, ganz neue Konturen im unregelmäßigen Putz der Wände ausmachen und zu fremdartigen Bildern zusammensetzen. Er hatte unwillkürlich an jenen Auszug von Leonardos Traktat über die Malerei denken müssen, in welchem dieser beschreibt, dass man bei längerer Betrachtung von Schmutzflecken im Mauerwerk und auf Steinen dort seltsame Physiognomien und ganze Schlachtengemälde auszumachen in der Lage sei. Man könne sie immer genauer definieren, auch wenn er dies mit Sicherheit mit anderen Worten gesagt hatte, wahrscheinlich in einem nicht enden wollenden Satz, der die Möglichkeit eines ganzen Kapitels in sich trug. Man müsse sich nur lange genug darauf einlassen.

Als Kind hatte er dies immer gerne gemacht, auf dem Rücken liegend die Wolken zu beobachten oder den mit Raufasertapete verkleideten obigen Abschluss seines Kinderzimmers, welcher er sich hatte bis zur fortgeschrittenen Jugendzeit mit dem kleinen Bruder teilen müssen. Immer wieder konnte er ganze Stunden damit verbringen, diese Bilder zu lesen, die Welt anders zu lernen, Minuten und Momente der Kontemplation, wichtig wie seine Träume, die Realität zu verarbeiten und abzulenken von den Unzulänglichkeiten des Lebens. Von dem Unverständnis der Welt, die jeder pubertierende Junge wohl verspürt. Ein Aufbegehren gegen die Welt der Erwachsenen, auch wenn man sich selber schon so reif fühlt, den Eindruck hat, als könne man alles durchschauen und die Zusammenhänge dieser Welt erschließen.

Viele Minuten und Sekunden waren inzwischen seine Blicke zwischen dem beschriebenen oder besser vorzustellenden Himmelsausschnitt und der Zimmerdecke hin und her gewandert, hatten alle möglichen Eindrücke aufgenommen und wie ein Schwamm konnte er diese in sich aufsaugen, sie zum passenden Moment wieder hervorzuziehen und nutzbar zu machen, auswringend zu einem Lebensspender der guten Gedanken und Assoziationen werden, im alltäglichen Leben ebenso wie in der Arbeit. Analogien und Überblendungen wurden gesucht und gefunden, wurden gedreht und gedrechselt und in neue Zusammenhänge gestellt. Diese ineinander fließenden Wolkenmassen, die von hier so zierlich schienen, die sich in das Blau mischten und es fraglich erschienen ließen, ob das Gesehene auch die Realität produzieren konnte. Manchmal in sanften Wellen , zuweilen aber auch sich zu türmenden Massen verschiebend. Das Wetter schien sich zu ändern, da trafen Wolkenformationen aufeinander, die sich eigentlich gegenseitig ausschließen sollten. Zirrus- und Schäfchenwolken kumulierten zu seltsam verschrobenen Gebilden, er war wohl kurzzeitig in den Schlummer zurückverfallen.

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