Der Stau XI / I

„Besonders auffallend scheint es in dieser kleinen Gruppe von jungen Menschen zu sein, dass niemand ihren ästhetischen Ansprüchen zu entsprechen, ja zu genügen scheint. Zwar spricht man immer gerne von der Schönheit der Jugend, doch selbst die ist hier trotz des jungerwachsenen Alters nicht festzustellen. Sämtliche Jungmänner sind mit einem Makel behaftet. Bei dem einen ist es ein riesiges Muttermal rechts neben dem Mundwinkel. Ein sich offensichtlich wuchernd ausbreitender Fleck, der vielleicht bald das gesamte Gesicht bedecken könnte, wenn er nicht in Bälde entfernt wird. Einer von ihnen hat eine unglaubliche Aktentaschenakne, die Anlass zur Sorge geben muss, ob sie jemals wird verheilen können, ohne eine zerfurchte Narbenkraterlandschaft zu hinterlassen. Sie musste sofort an den Kommandanten des Kampfsterns Galaktika denken, bei dem man immer das Gefühl hat, er sei der letzte Mensch, welcher die verheerenden Pocken noch zu spüren bekommen hatte. Nur dass dieser zumindest eine männliche Ausstrahlung hat. Die Hinterlassenschaften werden beim Gegenüber dann in Zukunft immer die Frage aufwerfen, ob es wohl möglich ist, dass man hier eine originalgetreue Nachbildung des Mondes vor sich hat. Nicht Mann im Mond, sondern Mann als Mond. Immerhin hat einer unter ihnen durchaus schöne Augen, die allerdings sind von einem Gesicht gerahmt, welches in ihr nur Abscheu hervorrufen kann. Tatsächlich muss sie langsam erkennen, dass man im Wartezimmer beim Hautarzt nicht unbedingt den Mann für das Leben oder gar die nächsten Wochen finden kann. Einen Freund?

Die fast noch pubertierenden Herrschaften mögen ja nett und sympathisch sein, aber das reicht nicht als Ausgleich für ihr Aussehen. Als sich die Tür ein weiteres Mal öffnet, ändert sich die vertrackte Situation allerdings vollkommen. Jeder und jede wird unbewusst beim auftauchen eines sogenannten Alphatieres erregt. Auch wenn dieser Achtzehnjährige nicht, beileibe nicht hübsch ist, sondern objektiv gesehen als makelhaftes Wesen zu bezeichnen ist, als Exemplar in den Raum kommt, welches auf den ersten und zweiten Blick sogar als hässlich bezeichnet werden kann. Er strahlt eine innere Kraft aus, der sich niemand verschließen kann. Ein Gefühl des gemeinsamen Wissens breitet sich im Raum aus. Alle drei Gegenüber wenden den Kopf und betteln geradezu, dass ihr Blick erwidert wird, dass er ihnen einen Blick schenkt. Augengruß. Fast scheint es, als würden sie ihn kennen, als wäre es das normalste auf der Welt, ihn anzuhimmeln. Auch sie ist in seinen Bann geschlagen, kann ihren Blick nicht abwenden und sich noch weniger erklären warum. Der Puls steigt ins Unermessliche.“

Sie legt ihren Klapprechner zur Seite, nimmt aus der roten Plastikdose mit dem aufgedruckten Piratenkopf einen mit Schokoglasur überzogenen kleinen Zwieback. Minizwieback, betrachtet diesen versonnen, bevor er im Mund mit den ordentlich rot geschminkten Lippen verschwindet. Für Sekundenbruchteile huscht ein Lächeln über ihr Gesicht, gibt ihr Inneres frei, bevor sie sich selbst wieder fassen kann. Sie scheint diesen Moment zu lieben, wenn das verströmende Aroma den Geschmack schon erahnen lässt.

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