Der Stau VIII / 2

Ein Glück, dass ich nicht hinten sitzen muss und das ganze aus nächster Nähe erlebe. Es ist schon schlimm genug, mit diesen, allen diesen Menschen zusammen in Stau zu stehen, gestern abends noch all den buckligen Verwandten in dem beschaulichen Örtchen Wewelsburg. Familienfeier und wie immer musste einer ausfallend werden, wieder musste einer auf die Verwicklungen unserer Familie in die Geschehnisse verweisen, dabei haben wir doch wirklich nichts mehr damit zu schaffen. Ja, die haben wirklich Mist gebaut, aber warum müssen wir heute immer wieder darauf verwiesen werden. Und die Wewelsburg hat auch mehr gesehen als jene Jahre. Auch wenn man an allen Stellen noch immer die Zeichen der Zeit entdecken kann. Ich habe andere Überzeugungen und kann mir das alles gar nicht vorstellen, ich bin ein anderer und ich möchte nicht immer wieder mit der Nase darauf gestoßen werde, wie man einen jungen Hund mit der Schnauze in seine eigene Haufen steckt, die er aus Versehen im Wohnzimmer gesetzt hat. Ja, das war damals ehemaliges Hauptquartier der Waffen-SS, ja, wir waren darin verwickelt. Und womit fängt Tante Resi doch tatsächlich an? Sie erzählt ihre Geschichte vom Nazilehrer, der ihr nicht einmal Lesen und Schreiben richtig beigebracht habe, weil sie immer nur so schauerliche Kriegsgeschichten hätten hören müssen, weil er lieber über die Aufgaben des deutschen Volkes parlierte, als auch nur in seinen einfachsten Strukturen daran zu denken, wahre Bildung zu vermitteln. Er habe Werte vermittelt. Falsche Werte. Fatale Werte. Da habe sie sich dann irgendwann einfach allem verweigert, weil ihre Brüder schon gefallen waren, sie sei überhaupt gar „keine Lega, Lega Legasteneutin“. Der Krieg habe alles kaputt gemacht und hinterher sei es doch auch nicht viel besser gewesen. Hinterher habe der gleiche Lehrer das hohe Lied auf die Demokratie gesungen und doch sei er dasselbe, das braune Schwein gewesen. Und deswegen habe sie nie eine Chance gehabt. „Legehenne“, hatte mein Onkel gesagt. Dabei war ihr Name doch schon ein klarer Beweis für ihre Haltung. Theresa Constanze. Die Kurzform, wenn man es wollte: Resi-Stanze. Das sagt doch alles.

Blöder Hund, musste alle Leute unterdrücken, von denen er dachte, sie lassen sich das gefallen. Wenn wir allein sind, erzählt er immer, dass damals noch alles besser war, dass man noch wusste, wo es hin ging, was ein Mann zu tun hatte und wohin die Frau gehörte. Immer wieder gebrauchte er Worte und hatte Denkweisen, die mir völlig fremd geblieben sind. Ich kann dieses Denken nicht verstehen, diese grundlegende Angst vor allem Fremden, das Misstrauen gegenüber allem und jedem, das seinem engen Wertekanon nicht entspricht. Irgendwann hatte ich mal gedacht, ich sollte ein langes Interview mit ihm führen, nur damit der Nachwelt festgehalten wird, wie schwachsinnig die Gedanken eines Mannes sein können, dem eine geistige Miss-Bildung durch die HJ eingepflanzt wurde. Damals noch habe er gewusst, was aus ihm werden würde. Großbauer im Osten in den reichen Kornkammern würde er werden, die heute so ausgeplündert seien, weil „die da nichts davon“ verstünden. Er hätte dem Volk Nahrung gegeben. Aber immer wenn ich fragte, Näheres wissen wollte, was denn mit den Leuten passiert wäre, die jetzt noch immer dort wohnen, dann sagte er nichts, machte vielleicht noch eine Geste, die zu interpretieren war, er noch verächtlich die linke Augenbraue hoch. Und ich wusste dann genau, was gemeint war. Jeder musste selber sehen, wie er überlebt. Die einen fühlten sich als Übermenschen, die anderen wurden als Untermenschen gesehen. Klar, auch er hat es gewusst, alle aus dem Dorf wussten Bescheid und jetzt machen sie, als wäre eine Braune Pest vom Himmel gekommen und auch dahin wieder verschwunden, aber das gibt es nur in Filmen wie „Iron Sky“. Die Schuld trug sich in die nächste Generation hinein und trotzdem fühle ich mich nicht schuldig, solange ich offen denke und die Geschichte nicht vergesse. Was hatte ein Man damals so vieldeutig gesagt? Gnade der späten Geburt.

 

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