Der Stau (VI / 2)

Sein Mitfahrer hat es sich hinten bequem gemacht, neben sich ein Laptop, die Zeitung ist ausgebreitet und alles so eingerichtet, als wäre es ein Büro. Er hat sein Handy am Ohr und macht das, was er am besten kann, organisieren. „Ja, ich bin es, stehe im Stau auf der A45 und komme seit geraumer Zeit kein Stück vom Fleck. Haben die Herrschaften schon angefangen?“ „Der vom Ministerium ist auch noch nicht anwesend, hat sich eben gemeldet, auch er steht im Stau. Jetzt ist die ganze Veranstaltung um zwei Stunden nach hinten verschoben worden. Auch einige andere Herrschaften haben es noch geschafft sich pünktlich hier einzufinden.

So etwas hatten wir hier noch nie, dabei arbeite ich jetzt schon seit 14 Jahren an dieser Stelle.“ „Das ist gar nicht so schlecht, einige Bewerber sind doch sicherlich schon da, werden glauben, das habe etwas mit ihnen zu tun, gute Taktik, das macht sie nervöser. Bis später.“ Er legt auf, mehr ist nicht zu sagen. So kann er sich wieder seiner Lektüre widmen, bestimmte Textpassagen anstreichen, sich Notizen machen. Diese Situation kennt er aus früherer Zeit. Einerseits die Sicherheit, der Beste zu sein, der für diese Aufgabe infrage kommt, andererseits eine Heidenangst. „Aber ich habe den Job gekriegt und ausgebaut. Es gibt vielleicht drei vier Leute, die mir in diesem Bereich das Wasser reichen können.“ „Ihr letztes Buch fand ich überzeugend, wenn ich das sagen darf. Gut zu lesen und trotzdem spannende Schlüsse, die sie aus den Fakten gezogen haben.“ „Glaube nicht, dass die anderen jemals diese Seiten gesehen haben. Sie stürzen sich auf alte Texte, vergessen dabei allerdings, sich mal die Geschäftsbücher anzuschauen, daraus kann man so viele Erkenntnisse ziehen. Dass etwa die Künstler damals nicht nach Fläche bezahlt wurden, sondern vor allem danach, wieviel echtes Ultramarin verwendet wurde.“ Kaum jemand kannte sich in der Renaissancekultur des alten Florenz so sicher aus, konnte manchmal ohne Vorlage aus den Originalquellen rezitieren. Welcher Kunsthistoriker hatte denn jemals die literarischen Texte der Künstler studiert, ihre Randnotizen entziffert. Er hatte in den letzten Jahren verschiedene Bücher verfasst, lehrte alle zwei Semester an der Universität. Seine Vorlesungen waren immer überlaufen von Studenten, die ihn anhimmelten. Nur wenige von ihnen hatten allerdings die Gunst gehabt, ihn auch persönlich kennen zu lernen, mit ihm vielleicht sogar zu arbeiten. „Wenn du im Wettbewerb mit den Anderen stehst, kommen dir manchmal schon gewisse Zweifel, du verfängst dich in allzu selbstkritischen Betrachtungen, die nie jemand außer dir selbst verstehen würde. Nicht einmal erkennen, über welche Punkte du selber stolpern würdest. Die neue Studien über Bruneleschis Architektur hatten doch tatsächlich einige Denkfehler, in der zweiten Ausgabe habe ich die überarbeitet. Die Literaturangeben hatten einige Fehler, aber von denen hat es keiner bemerkt.“ Seit Jahren allerdings hatte er sich der Zusammenarbeit mit verschiedenen Bundesbehörden und Gruppen zugewandt, die sich mit Restitutionsfragen beschäftigen. Hier war er als Gutachter erstens gefragt und zweitens fürstlich bezahlt. Und Lösungen für Konflikte hatte er meist auch noch parat. Und manchmal, wenn er Glück hatte, konnte er auch noch interessante Arbeiten aufkaufen. Entweder für die eigene Sammlung oder für Freunde, von denen er wusste, das würde in ihre Kollektionen passen. In den letzten Jahren hatte er sich einen guten Namen gemacht und die Verhandlungspartner hörten auf ihn. Daraus war ein gut laufendes Unternehmen geworden, natürlich mit Kontakten im internationalen Kunsthandel. Wenn allerorten die Kunstgeschichtler klagten, dass sie keine Jobs bekamen, verzog er nur die Nase. Er wusste, dass es nicht reichte auf die Chance zu warten, man musste aktiv die Chance herarbeiten, um sie zu ergreifen und auszubauen. Dazu gehörten Beharrlichkeit, ein umfassendes Wissen und vor allem eine nötige Portion Selbstvertrauen. Nur wer Selbstvertrauen darauf hat, dass die Ellenbogen bei Gebrauch nicht brechen, der setzt sie auch effektiv ein. Jetzt war er auf dem Weg zu einer Konferenz, bei der auch neue Bewerber auf bestimmte Stellen im Ministerium teilnehmen durften. Aus ihren Redebeiträgen und den Gesprächen, die er zwischendurch mit ihnen führen würde, ließe sich sicherlich der eine oder die andere fähige zukünftige Mitarbeiter finden, den er nur noch für sich gewinnen musste. Einige Mal hatte er schon das Glück gehabt, nicht nur die Frau Ministerin mit hervorragendem Personal auszustatten, sondern auch noch für das eigene Unternehmen geeignetes Material zu beschaffen.

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