Der Mann neben dem der Unsichtbare zu stehen kommt scheint ein Protokoll zu formulieren. Er redet, stockt, sucht immer wieder neue Formulierungen. Tatsächlich kann man auf dem Armaturenbrett ein kleines Mikrophon erkennen. Vielleicht schreibt er für eine Zeitung, versucht während der Heimfahrt den Artikel zu konzipieren, der dann nächste Woche veröffentlicht werden soll.
„Zumutung eines Manipulators, nein, der selbst ernannte Mythenzerstörer. Hm. Der ganze Vortrag war eigentlich eine Zumutung, so was habe ich bisher wirklich nur bei sogenannten Motivationstrainern wie Christian Bischoff erlebt. Es ist doch immer die gleiche Masche. Sie fangen an mit durchaus logischen Erkenntnissen, die jeder schon in seinem Leben gemacht. Dabei werden die Tatsachen nur etwas, kaum merklich verdreht und schon kommen sie zu ihren oftmals sehr eigenwilligen Konklusionen. – Nein, so kann man das nicht schreiben. – Zuviel persönliches Gefühl drin, muss das Ganze nackter und nüchterner präsentieren, damit die Leser nicht denken, ich würde polemisieren. So geht es nicht, das nimmt mir keiner ab. – Der Hirnforscher versteht es, den Zuhörer aus der Reserve heraus zu locken und auf seine Seite zu ziehen. Er überzeugt spitzfindig und ausgeklügelt das gesamte Auditorium. Schlagwörter und formelhafte Sätze werden gezielt an den Mann und die Frau gebracht. Allenthalben ist bei jeder Wendung ein begeistertes Kopfnicken wahrzunehmen. Die Folgerichtigkeit der ersten Behauptungen führt unweigerlich dazu, dass auch die daraus sich unabweisbar entwickelnde Schlussfolgerung logisch erscheint. Den ersten Teil kennen die Menschen aus ihrer eigenen Erfahrung. – Nein. –
Die Voraussetzungen sind Alltagsbeobachtungen, gut verpackt, zielsicher mit rhetorischen Fragen fortgeführt. Wenn gefragt wird, was das Kind als erstes lerne und darauf schon nach wenigen Sekunden des offen in die Runde Sehens die eigene Antwort kommt, „Frustrationstoleranz“, dann ist man als Hörender erst mal verblüfft. Man hatte vielleicht erwartet, Sozialgefühl, menschliche Nähe. Das aber ist ein Schlagwort, ein Totschlagwort, apodiktisches Argument, man kann überhaupt nicht mehr denken, es gäbe auch etwas anderes. Ja, das ist es. In allem, was der Mensch als erstes lernt, liegt der Keim der Frustrationstoleranz. Er findet die Brust nicht sofort, kann sich nicht flüssig und schwerelos bewegen, die Sprache der Erwachsenen nicht verstehen. Alles muss er erlernen. Dahinter steht alles andere zurück. Alles andere bleibt unerwähnt, wird abgeschmettert. Ja, schon das Erlebnis der Geburt ist frustrierend, da hatte man bisher eine Wasserwelt nur für sich, in feuchtem Glück und schon ist man den Einflüssen der Atmosphäre ausgesetzt und das Ganze ist auch noch mit Schmerzen verbunden. Das hat der Hirnspezialist zwar nicht gesagt, aber es stieg mir sofort zu Bewusstsein. – Damals, als ich noch als Zivildienstleistender in den sogenannten Familienzentrum gearbeitet habe, lernte ich mal die Jünger von Stanislav Grof kennen, die mit irgendwelchen unglaublich intensiven Atemübungen, gepaart mit Trommelschlägen in den Zustand der pränatalen Wesenheit zurückkehren wollten, um ihre Persönlichkeit zu ergründen. Glaube, ziemlich Schmarrn. Durch Hyperventilation in einen neuen Glückzustand zurück zu kehren. Die haben wirklich gebrüllt wie die Babies, wenn sie zur Geburt zurück kamen. Und wenn die aus dem Seminarraum kamen, waren sie immer völlig verschwitzt und sind sofort zum Hallenbad gerannt, duschen. Mussten immer Unmengen Tee trinken, wer weiß was da drin war. Haben abends auch niemals die Bierstube aufgesucht, blieben lieber in ihren Zimmern oder sind um den See gewandelt. Aber die Gesichter waren mehr als glücklich. –