Der Stau (IV/1)

Die beiden Frauen neben mir sehen echt gut aus, scheinen aber so mit selbst beschäftigt, die bemerken mich gar nicht, werden mich wohl auch niemals bemerken. Wie alle anderen auch. Egal wo ich auftauche, keine kennt mich und meistens werde ich auch gar bemerkt. Könnte wahrscheinlich nackt über das Spielfeld bei einer Begegnung zwischen Schalke und Dortmund laufen und keiner würde es merken. Wahrscheinlich würde genau zu diesem Zeitpunkt der Strom ausfallen oder einer bekannten Schönheit risse gerade der linke Träger ihres Tanktops und auf allen Leinwänden würde das zufällig gezeigt. Sogar die Polizei wäre dann abgelenkt und würde mich laufen lassen. Weiß auch nicht woher das kommt. Alle möglichen Leute kenne mit Namen und weiß meistens auch ziemlich viel über ihre Geschichte, aber eigentlich ist das ohne Belang. Sollte vielleicht mal ein Buch darüber schreiben, hätte viel über die Anderen zu erzählen. Alle anderen Leben sind so gesehen interessanter als meines. Habe früher immer Literatur über die Außenseiter gelesen, die nicht wahrgenommen werden, weil sie irgendeinen Makel haben. Mein größter Held war Grenoille im Parfum. Der hatte neben seiner Geruchlosigkeit wenigstens ein Talent, das er für seine Zwecke nutzen konnte. Er hat die Welt verändert, wenn auch nur vorübergehend, für einen Moment, flüchtiger als die vorüberziehenden Wolken. Aber immerhin.

Gestern wieder so eine Begegnung mit einer Frau, die ich schon seit Jahren kenne, die mich tatsächlich nach meinem Namen fragte, dabei sind wir schon zusammen in die Schule gegangen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht an mich erinnern. Das kann doch eigentlich nicht wahr sein. Andere schlagen ihr Kapital daraus. In der Literatur und im Film steigen sie wenigstens zu Agenten auf, die alles herausfinden, ohne je selber entdeckt zu werden. Aber talentfreie Zonen können die auch nicht beim Geheimdienst gebrauchen. Hatte mich tatsächlich schon mal für den Staatsdienst beworben, aber niemals etwas von denen gehört, bin wohl übergangen worden, auch die vielen zig Bewerbungen, die ich an andere Firmen verschickt hatte, waren nicht von Erfolg gekrönt. Weiß nicht, woran das liegt. Wenn andere zumindest zum Bewerbungsgespräch geladen werden oder eine Absage bekommen, schickt man mir noch nicht einmal die Unterlagen zurück, obwohl ich jedes Mal frankierte Rückcouverts beigelegt hatte. Mal ehrlich, das ist doch echt nicht fair. Was ist es, das mich unsichtbar macht oder zumindest nicht wahrgenommen. Habe es ausprobiert, kann genauso wie jeder andere Geruch entwickeln. Und schreien kann ich auch. Aber das merkt auch keine.

Die beiden Mädchen nebenan, nein, das sind schon echte Frauen, toll sehen sie aus. aber auch angestrengt. Die gefallen mir echt. Aber was nutzt es, keine Gedanken darüber machen, wird nichts helfen. Oma hat immer gesagt, meine Zeit werde schon noch kommen, ich muss nur Geduld haben. Aus jedem hässlichen Entlein wird irgendwann ein stolzer und vor allem schöner Schwan. Aber ich war nie richtig hässlich, nicht einmal das. In der Pubertät hatte ich weder Pickel noch eine Zahnspange. Meine Haare, na, die waren eben mittellang, hat niemanden interessiert, blassblond. Die Augen blassgrau und nichtssagend, Und nie von irgendwem besungen, von wegen „pale blue eyes“. Schade, wenn man dieses Urteil über sich selbst fällen muss. Glücklicherweise gibt es ja das Internet, da werde ich erkannt. Da bin ich schon wer. Da habe ich eine Identität.

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