Tatsächlich erlebe ich im modernefeindlichen Stau einen unglaublichen und vor allem kulinarischen Hochgenuss. Mache dazu selbst und unbemerkt das passend dümmliche Gesicht, welches wohl zu erwarten ist.
Plötzlich steht meine Mutter dort vor mir, das Gedankenbild einer grandiosen, starken Frau, an jenem brütendheißen Sommertag im August. Die Luft schien über der Landschaft zu kleben und in jede Pore zu kriechen. (Übrigens ein Grund, warum ich lieber in den gemäßigten Zonen bleibe. Nichts könnte mich gen Afrika oder Südamerika ziehen, dorthin, wo man das Gefühl hat, es gäbe keinen Unterschied zwischen Haut und Kleidung, der Schweiß verschweißt alles unrettbar mit einander und macht uns trotzdem weis, dass alles seine Richtigkeit hat. Man bedenke nur, wie viele Leute an einem Hitzekoller sterben dort oder anderen nichtheilbaren Krankheiten, die natürlich nur damit zu tun haben, dass es so schwülheiß dort ist. Nein, um ehrlich zu sein, würde es mich wirklich reizen. Habe nur bisher keine Zeit dazu gefunden, sag also Angst vor dem Fremden.) Sie hatte damals gewunken, mich zu sich bittend, wir waren in den kühlen Keller des Bauernhofes gestiegen und hatten dort auch Kekse gegessen. Morgens in aller Frühe selbst gebackene Kekse, lange bevor meine sechs Geschwister und ich aufgewacht waren. Gar daran gedacht oder davon geträumt hatten aufzuwachen. Obwohl wir nie lange schliefen, es war auch vor der Schule genug zu tun für uns.
Meine Mutter wurde damals von einer Art Bettflucht getrieben, bis spät in die Nacht hatte sie das Gefühl, arbeiten zu müssen, als wolle sie sich und allen anderen etwas beweisen. Vor allem der Schwiegermutter, die ihr krumm genommen hatte, dass sie nicht vom Bauernhof kam, sondern die Tochter eines Kaufmanns gewesen ist. Und zur frühsten Morgenzeit stand sie schon wieder in den Ställen des Bauernhofes, bewirtschaftete, versorgte die Tiere und hatte immer noch Zeit irgendetwas Schönes zu machen. Die buk dann leckere Plätzchen mit Nüssen und Makronen aus Kokos. Natürlich durften bei ihr auch die Blechdosen mit Eiserhörnchen nicht fehlen, die frisch gedreht wurden und dann an warmen Sommertagen entweder mit eigener Schlagsahne oder in ganz seltenen Fällen mit selbst gemachtem Zitronensorbet gefüllt wurden.
Auch die einfachen Menschen auf dem Land haben ihre Freuden. Neben der damals noch zum Teil üblen Plackerei, dem amoniakgetränkten Geruch, von anderen euphemistisch auch frische Landluft genannt und dem zwangsläufig anfallenden Schmutz gab es gerade in den Sommerzeiten unter den uralten Kastanienbäumen und Walnussriesen im Süden des Hauses, unter den Linden im Nordwesten schöne Nachmittage mit Kaffee und Kuchen. Dann wurden die kulinarischen Schätze aus dem kühlen Keller geborgen.
Die Bäume hatten mehr Funktionen als auf den ersten Blick gedacht. Sie sollten nicht nur zieren und mit ihren Blüten im Frühling erfreuen. Sie hielten den Keller trocken, warfen im Sommer kühlende Schatten und hielten die Fliegen fern, denn die mögen Walnüsse nicht. Die Blätter setzen heute noch einige Imker ein, um die Varoamilben von den Bienen fernzuhalten. Und letztlich konnte man die Nüsse im Herbst sammeln, essen und verkaufen. Die Kastanien bekamen die Schweine zu fressen und damit steigerte man die Fleischqualität, weil dieses besseren Geschmack erhielt. Da die Eichelmast in den Wäldern zu meiner Kindheit schon lange nicht mehr möglich war, musste man andere Wege der Fleischverfeinerung finden. Erstens war sie tatsächlich aus Naturschutzgründen verboten worden, dabei hatte man schon frühzeitig fast sämtliche Eichen- und Buchenmischwälder durch Fichtenmonokulturen ersetzt. Zweitens konnten die damals in Mode kommenden Langschweine mit vier Rippen mehr, kaum noch draußen gehalten werden. Sie hatten kaum noch Fell, nur noch wenige Borsten, waren sehr stressanfällig und mussten beim kleinsten Sonnenbrand notgeschlachtet werden. außerdem konnten diese Tiere kaum noch längere Strecken wandern, das machte die Statik einfach nicht mit.
Jene mit Schokaladenhauch überzogenen Plätzchen mussten im Schatten stehen, damit sie nicht schmolzen, bildeten bei jedem Eintunken in die heißen Kaffee und für uns Kinder in den warmen Kakao einem Ölfilm, wie bei einer kräftigen Hühnersuppe. Der wurde noch mit Backkakao und Zucker gemacht. Hatte Aroma. Nein, gespart wurde bei solchen Anlässen nicht, wenn die Verwandten zusammen kamen, angeblich nur um Eier abzuholen. Die weißen und braunen Hühner liefen bei uns noch auf dem gesamten Hof herum, pickten alles, was sie bekommen konnten. Vor allem, wenn man ihnen Insekten und Würmer gesammelt hatte, Kinder haben zu so etwas Zeit, dann stürzen sie sich wie die Irren darauf und es dauerte auch nie sehr lange, bis alles weggefressen war.
Werfen sie mal eine Sammlung von Maikäfern in den Hühnerstall. Das Gemetzel dauert nicht lange. Da braucht es keinen Splattermovie, das ist Realität. Aber nach dem Mahl gucken die Hühner so, als hätten sie seit Monaten nichts Gutes mehr zu fressen bekommen. Wir hatten auch nie mehr als dreißig Vögel, alles andere wäre zu viel gewesen. Jede der Tanten brachte dann ihre Kinder mit und wir spielten auf dem Strohboden, bauten dort unsere Burgen aus den damals noch fast handlichen Ballen oder sprangen herum, sahen hinterher aus wie die Urweltmenschen, alle Kleidungsstücke, die Haare, vor allem aber die Strümpfe hatten ihre Spelzen abbekommen. Dann tobten über zehn Kinder von 5 bis 13 Jahren durch die Ställe des Bauernhofes, wir kuschelten mit den jungen Ferkeln, die unter Rotlicht lagen, weil die alte Mutte (Sau) wieder mal einige totgebissen hatte. Wir ärgerten den bösen Eber, vor dem jeder von uns Angst hatte. Manchmal verließen wir auch das Gelände, sprangen über den kleinen Bach und besuchten die verwandten auf den anderen umliegenden Höfen. Dann konnte die Horde auch auf mehr als zwanzig Kinder wachsen. Heute würden die Eltern wahrscheinlich wegen des Lärms verklagt werden.
Damals wollte ich noch Bauer werden. Hatte noch gar keine Ahnung davon, was es hieß, einen Bauernhof am Leben zu halten. Wusste nicht, dass meine Mutter mit ihrer Lebensfreude und Kraft nicht der Normalfall war. Die meisten Bäuerinnen wurden mit den Jahren depressiv, sahen, dass sie sich hässlich geschuftet hatten, während die Handwerkerfrauen ein schönes Leben führten. Der Hof warf nicht genug ab, mein Vater musste arbeiten gehen, abends, wenn er heim kam und in den Ferien arbeitete er weiter, dann wurde der Hof gemacht, all die Dinge, die wir Kinder nicht, noch nicht machen konnten. In all den Jahren damals haben wir keine Ferien gemacht. Aber das soll hier wirklich kein Vorwurf sein. Die Kindheit mit all den Geschwistern war einfach und schön und geprägt von tiefer Liebe. Keiner von uns ist letztlich Bauer geworden. Einige haben sogar studiert. Der Resthof blieb uns, alle Ländereien wurden verpachtet. Einige auch bebaut, weil wir das Glück hatten, dass sie zu Baugebiet erklärt wurden.
