Der Stau (I/3)

Unter der Zeitung liegt auf dem Nachbarsitz, der heute leider frei geblieben ist, eine Packung mit Schokoladenkeksen. Langsam ziehe ich sie hervor, wollte eigentlich noch etwas damit warten. Ich brauche jetzt einen Triumph der Sinne, öffne die Packung. Ein unbeschreiblicher Duft kommt mir entgegen, eine Wärme, die man kaum erklären kann. Der Geruch von guter Schokolade kann jeden Sinn in den Bann schlagen, manchmal sogar das Gleichgewicht beeinflussen. Und hier ist nicht der Zustand nach einigen Jahren täglichen Überkonsums mit der Folge von 250 Kilogramm Gewicht gemeint. Eigentlich hatte ich sie zum Verschenken eingepackt. Aber meine Gastgeber wissen ja nichts davon, also können sie mir auch nicht böse sein, dass ich ihr Gastgeschenk jetzt einfach vertilge. Ohne Fragen, ohne Bescheid zu geben. Wenn man so will, kann man auch von einer abgemilderten Form des Mundraubs sprechen. Da die Kekse in Gedanken ja schon nicht mehr in meinem Besitz waren. Nein, noch habe ich sie nicht verschenkt, noch sind sie mein und schmecken im Übrigen auch ganz köstlich. Die Verpackung hat nicht zu viel versprochen, schlicht gehalten warb sie mit gehörigem Understatement und kann nun mit überraschendem Geschmack, nein Genuss aufwarten. Lecker. Eben Konditorenhandwerk vom Feinsten.  Dabei zergeht die herbzarte Schokoladenhülle fast schon bedächtig auf der Zunge, wirkt vielleicht in ersten Moment etwas befremdlich süß und gibt schon nach einigen Sekunden den Geschmacksnerven den Weg zu einer dunklen Bitterkeit edler Kakaobohnen frei. Das aztekische Wort cacahuatl bezeichnete schon die süße Bitternis. Damals diente die Kakaobohne als Zahlungsmittel. Angeblich konnte man mit 100 Bohnen eine Frau kaufen, aber das weiß die Bibel nicht zu berichten, die wusste ja gar nichts von Amerika.

 

 

 

 

 

Zwei hauchdünne Schichten umschließen ein Feingebäck mit großen Anteilen an Butter, Honig und Nüssen. Ich muss einfach nachgreifen, das ist besser, als jede Zigarette, muss den nächsten Keks der Schachtel entnehmen, weiß gar nicht, wie es die anderen Menschen immer schaffen, sich zurück zu nehmen, wenn solcherart Köstlichkeiten auch nur in etwaiger Griffweite stehen. Ich lege ihn andächtig auf die Zunge, fühle mich wie als kleiner Junge; die Hostie bei der Erstkommunion. Sünde pur, nur den Vergleich zu denken erscheint mir Sünde pur. Ja, in Schokolade steckt ein göttlicher Anspruch, eine Ahnung von paradiesischem Leben, ohne die absolut friedliche Langeweile des Paradieses. Wahrscheinlich wurden die beiden damaligen menschlichen Bewohner gar nicht aus dem Garten geworfen, sie hatten einfach keine Lust mehr auf die Ödnis des himmlischen Elysiums (oder war es doch der himmlischen Illusion), wollten etwas erleben und sich beweisen, dass das Leben einen Sinn macht und hat und sei es irgendwann in tausenden von Jahren ganz weit weg, jenseits des großen Ozeans, wo die Welt schon längst zu Ende sein sollte,  die Schokolade zu entdecken. Sie sind gegangen, freiwillig. Aber welcher Schreiberling hat schon den Mut das zuzugeben. Nicht umsonst finden sich gerade in den ältesten Schriften so widersprüchliche Passagen, ja, gleich zwei verschiedene Weltschöpfungen, die sich nicht einig werden, wie denn nun alles entstanden ist. Und all das nur, damit irgendwann irgendjemand irgendwo im Auto auf der Autobahn festsitzt und genüsslich Schokoladenkekse verspeist. Wenn Adam und Eva das gewusst hätten, wären sie wahrscheinlich lieber dumm gestorben und hätten nicht vom Baum der Erkenntnis genascht. Und bitte nicht vom Apfelbaum, den hatte man damals noch gar nicht gezüchtet.

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