Auf und unter Dach (Teil 1)

Der Nebel lag noch in den Feldern, die meisten Menschen schliefen an diesem Samstagmorgen noch, als sich Herr Nipp aufmachte, die große Stadt in allernächster Nachbarschaft zu erkunden. Aus der Ferne betrachtet, hat diese Ansammlung an meist doch recht niedrigen Gebäuden keine besondere Silhouette, ist nicht zu unterscheiden von anderen Ortschaften dieser Größe. Während Frankfurt mit seiner Skyline schon aus der Ferne anzeigt, dass hier das große Geld sitzt und den Anreisenden in Stauen versetzt, dass es so untypisches in Deutschland gibt. Hier ist alles über lange Zeit gewachsen. Hier wird nichts mit Macht und übermäßigem Kapital aus Spekulationsgeschäften und bei Schiffbruch aus Bankenrettungsfonds, die sich satt aus Steuergeldern speisen, finanziert. Gerade einmal an die 500.000 Menschen leben hier, hat er sich sagen lassen. Also nicht gerade eine der sogenannten Megalopolen. Diese Stadt befindet sich in einem Zusammenhang von weiteren mittleren Großstätten, insgesamt mögen hier vielleicht 10 Millionen Menschen leben. Aber hier hat jede Gemeinde ihre eigene Verwaltung, deshalb wirkt alles etwas klein und provinziell oder besser ländlich. In den Zwischenzonen finden sich auffällig viele Landwirtschaftliche Betriebe, manchmal auch kleinste Dörfer, die kaum auf einer Landkarte auszumachen sind.

Herr Nipp hatte die frühste Bahn genommen und war beim Hauptbahnhof ausgestiegen. Sein Plan war es, einen ganzen Tag dort zu erleben, dort zu leben. Ohne Geld in der Tasche, nur eine Fahrkarte für den Rückweg. Auch die Kamera hatte er zu Hause gelassen, er wollte schließlich kein Tourist sein, sondern einen Tag lang Mitbürger. Man mag darüber nun spötteln, aber es war ihm ein echtes Anliegen, quasi als soziale Studie. Die ersten Stunden lief er in aller Seelenruhe durch die noch recht ruhige Innenstadt, schaute sich die Geschäfte an, gelangte auf seiner Wanderung sogar bis zu der kleinen Produzentengalerie, in welcher er schon so einige schöne Abende und eine ganze Nacht verbracht hatte. Da es etwas kühl war, musste er in Bewegung bleiben. Es heißt ja, eine Stadt schläft nie, hier aber wirkte es mancherorts doch recht idyllisch. Auch wurde er von wirklich niemandem angesprochen. Die Entgegenkommenden waren viel zu sehr mit sich selbst und ihrem Leben beschäftigt.

Ja, an einigen Stellen schliefen auch Menschen draußen, das wurde von ihm aufmerksam gesehen. Herr Nipp wusste nicht, ob dieses Schicksal selbst gewählt war oder diese Obdachlosen in eine Situation hineingerutscht waren, die irgendwann wohl aus dem Ruder lief. Nicht alle jedoch sahen völlig unzufrieden aus, hatten sich vielleicht mit ihrem Dasein abgefunden. Eigentlich erscheint es unglaublich, in einem der reichsten Länder dieser Welt zu leben und trotzdem solches Elend vor Augen zu haben. Er hätte gerne etwas gegeben, aber das war jetzt nicht möglich. Vielleicht wäre es auch sinnlos gewesen. Er hatte einmal von einer Aktion gehört, bei der Jugendliche zunächst mit Autowaschen und Kuchenverkauf Geld verdient hatten. Am nächsten Tag hatten sie allen Vorbeigehenden in der Innenstadt zwei Euro in die Hand gedrückt, mit der Aufforderung Gutes zu tun. Auf den ersten Blick ein naiver Plan. Aber wenn mit zwei Euro zwei Kaffe to go kauft und sich dann Zeit lässt gemeinsam mit einem dieser Menschen das Warme zu trinken und einige Wörter zu wechseln, dann macht man den anonymen Obdachlosen zu einen individualen Menschen. Herr Nipp selber hatte so etwas nie ausprobiert, hatte Angst davor.

Einige Trinkhallen hatten schon geöffnet, vielleicht waren sie auch die ganze Nacht geöffnet. Da wollte er allerdings nicht weiter nachforschen. Diese Geschäfte, deren soziale Funktion nicht zu unterschätzen ist, bieten alles an, vom Bier bis zur Packung Nudeln, von der Zigarette bis zur Tiefkühlpizza. Wenn es zu seinen Studienzeiten in der unglaubliche großstädtischen Metropole Siegen noch geheißen hatte, dass Studenten vor sechs aufstehen müssen, weil um halb sieben die Geschäfte schließen, kann man hier seine Mahlzeiten zu jeder Zeit erwerben. Und da die meisten Trinkhallen fest in türkischer oder marokkanischer Hand sind, kann man auch orientalische Waren beziehen. Der moderne Kolonialwarenladen, auch wenn es inzwischen seit fast hundert Jahren glücklicherweise keine Kolonien mehr gab.

Bemerkenswert sind die in jedem Stadtteil zu findenden Parks, dafür gedacht, dem gestressten Städter einen Ruhepol zu bieten. Tatsächlich gehen gerade an schönen Sommertagen viele Menschen dorthin. Suchen sich ein schönes Sonnenplätzchen, das möglichst frei von Hundekot oder zerbrochenen Flaschen ist und genießen ihr Dasein. Diese grünen Lungen sind inzwischen wahre Biotope geworden. In einigen tummeln sind Füchse und Marder, Kaninchen und sogar echte Hasen. Man sagt hinter vorgehaltener Hand, dass es mitten in den Städten ganze Rotten von Wildschweinen gibt, die in den Gärten der Nachbarschaft und den Mülleimern ein reichhaltiges Nahrungsangebot haben.* Einen Park durchquerte Herr Nipp und staunte über die Reinheit. In Kleinstädten, die eine überbordende Natur im Umfeld haben, sind solcherart Parks meist wesentlich verdreckter. Der zweite Park, den er an diesem Tag sah kam diesem Bild, welches er sich vorher in seiner Vorstellung gemacht hatte, schon wesentlich näher. Überall flogen Plastiktüten herum, Flaschen lagen da und irgendwie wirkte alles abgenutzt und syphig. Es stellte sich allerdings heraus, dass dies so arrangiert war, denn gerade wurde hier eine Folge Tatort gedreht. Das Fernsehen braucht Klischees, die Vorurteile der Glotzer wollen bestätigt werden, niemand würde glauben, wenn es im ehemaligen Kohlenpott einfach hübsch aussähe. Auch wenn die Realität in vielen Bereichen inzwischen ganz anders aussieht, diese Städte wirklich ansehnlich geworden sind, so wird sich das Team vor allem die Plätze heraussuchen, die ihm als typisch erscheinen. Und im Revier bieten sich da Schlackehalden, alte Industrieruinen und Arbeiterviertel geradezu an.

Inzwischen war die Zeit recht weit voran geschritten, die Geschäfte hatten wohl geöffnet und Herrn Nipp überkam ein Gefühl des Hungers. Er wandte sich also der Fußgängerzone zu und schon nach einer viertel Stunde lief ihm ein alter Bekannter über den Weg, der vor einiger Zeit hierher gezogen ihn zu einem Frühstück einlud. Heißt es nicht, dass „Gott mit die Dummen“ ist? Irgendwo in der Bergpredigt hatte Jesus einmal über die Vögel auf dem Felde gesprochen, die nicht säen und doch immer satt werden. Genauso kam sich Herr Nipp in diesem Fall vor.

*In Berlin sollen angeblich bis zu 5000 Wildschweine und einiges an Rehwild leben. Es stellt sich hier die Frage, wann die Stadtteile unter interessierten Jägern als Reviere verpachtet werden. Dazu müssten allerdings die sicherheitsbestimmungen etwas gelockert werden.

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