Wettbewerb, unerwartet

Auf die kleinen Blumen hat er es abgesehen, die unscheinbaren, die der flüchtige Wandererblick gern übersieht, die gesucht werden wollen. Neben Kameras und einer Unzahl an Objektiven, Stativen und hochkomplexen Blitzlichtapparaturen befinden sich Sprühfläschchen im Gepäck, um das Gefühl tauigen Morgens vorzutäuschen und andere Tricksereien. Es war nicht gerade leicht für den engagierten Fotografen, der für seine hervorstechenden Bilderserien bekannt ist, alles Gepäck auf diese Hochalmwiese oberhalb der Geröllfelder zu schaffen. Immerhin befindet sich das zu untersuchende Feld auf über 2000 Metern Höhe. Das ist kein Pappenstiel in den Dolomiten, auch wenn es sich verglichen mit den Maßen eines Montblanc wie eine Lächerlichkeit anhört.

Glücklicherweise hat er in Herrn Nipp einen zufriedenen Träger gefunden. Jeder von ihnen hat für diesen Auftrag fast 14 Kilogramm über Stunden geschleppt. Ohne zu murren, ohne auch nur einmal zu meckern. Man hat meistens geschwiegen, hat sich auf den nächsten Schritt konzentriert. Jeder erfahrene Wanderer weiß, dass der Andere das gleiche sieht, meistens, man muss sich nicht dauernd auf die Besonderheiten aufmerksam machen. Nur manchmal, wenn man ganz seltenes sieht, weist ein Fingerzeig die Richtung für seltene Augenblicke. Herr Nipp genießt jeden Meter in dieser Landschaft. Die Felsformationen, welche aus jeder Perspektive ein anderes Erscheinungsbild erhalten. Mal wirken sie wie Figuren aus mythologischen Vorzeiten, mal erscheinen sie wie Wächter oder schlummernde Tiere im Gras. Er kann sich dann immer vorstellen, dass die hellen Kalkformationen einfach zum Leben erwachen, aufstehen und neugierig an allen Dingen schnuppern. Als Kind hatte er immer gedacht, dass die gesamten Dolomiten zu bestimmten Zeiten zum Leben erwachen würden. Eine Landschaft  bevölkert von legendären Lebewesen, dazu verdammt, tagsüber in ewig gleiche Positionen zurück zu kehren, zu verharren. Nur nachts feierten diese Kreaturen rauschende Feste, wenn die Gipfel eingehüllt waren von blitzenden und donnernden Wolken. Erst als er zum ersten Mal in einer Berghütte übernachtet hatte, konnte er diese naive Vorstellung endgültig ad acta legen.

Zurückhaltender da schon der eigentliche Akteur, Anreger dieser kräftezehrenden Wanderung. Herr Nipp fühlt sich zwar von der fast militärischen Geschwindigkeit an den langen Marsch des Mao erinnert, glücklicherweise ohne Verluste, freut sich andererseits, einfach hier zu sein. Das genau ist seine Welt, hier in der senkrecht gestellten Landschaft fühlt er sich wohl. Hier muss er keine Angst vor gierigen Wellen haben. Das Meer ist weit weg, ganz zu schweigen von der Langeweile der schwappenden Ostsee, der rauschenden Nordsee. (…wie war das noch? Stellte man den Deutschlandfunk nicht auch einfach ab, wenn er zu sehr rauschte?)

Der Fotograf soll also für ein Pflanzenfotomagazin einige Unter- und Abarten des Kohlröschens, einer faszinierenden kleinen Orchidee, festhalten. Ja, er soll diese seltenen Exemplare ausfindig machen. Hier auf diesen riesigen Matten kann man sie mit etwas Glück und vor allem wachen Augen finden. Eingebettet zwischen kleinwüchsigen Gräsern, Läusekraut und Leimkraut, Küchenschellen kann man die dunklen Blütenköpfe über dem Grün schweben sehen. Tatsächlich wirken sie wie samtigweiche Kohlenstücke. Die anzutreffenden Ziegen, Rinder und Mufflons halten diese Wiesenstücke kurz. Manchmal verirrt sich auch eine Gams dorthin. Einige der Blütenstände zeigen farbliche Variationen zwischen zartem Rosa und Kirschrot. Einige Blütendolden lassen sogar weiße Streifen aufleuchten. Genau diese müssen fotografisch digital gebannt werden.

Ein Publikum an der Natur interessierter Leser würde es ihm danken. Doch das gefundene Material kann ihn einfach nicht zufrieden stellen. Während Herr Nipp mit seiner halbwegs semiprofessionellen Spiegelreflexkamera (man beachte die tautologische Dopplung, die hier zur Halbierung wird) drauf los knipst, ist dem Profi die eine Pflanze zu klein, die nächste zu welk. Die eine erscheint noch nicht genügend aufgeblüht und eine ist so dunkel, dass jede Einzelheit fast zur breiigen Unkenntlichkeit zusammen gezogen wird. So jedenfalls kann kein markt- und magazintaugliches Material zusammen getragen werden. Die wenigen Bilder, die er letztlich mit nach Hause nimmt, wird er wohl am Rechner nach seinem Geschmack und vor allem den Wünschen der Auftraggeber manipulieren. Schließlich sollte heute doch jeder wissen, dass es eine reale Realität nicht in die Zeitung schafft, die muss schon gepimpt werden. Glücklicherweise gibt es photoshop und andere Programme…Mit ein bisschen Rot wird jede Pfütze zu einer Blutlache. (Kein übler Scherz, so geschehen im Jahr 1997 beim Massaker von Luxor in der Zeitung Blick. Das bringt Leser.) Die Redakteure werden glücklich eine Geschichte darum herum erfinden und er selbst kann ohne Gewissensbisse sein Honorar kassieren. Unglaubliche wissenschaftliche Vorbereitung, ein Tag Fotografieren, drei Tage Nachbearbeitung, nicht zu vergessen die vielen Spesen und die Hilfskraft, das wird teuer.

Auf dem Rückweg überlegt Herr Nipp eine Zeit lang, wie der Andere wohl reagieren würde, wenn er mal einfach die Ausrüstung an steiler Stelle nach unten rollen ließe. Diese in eine unbegehbare Schlucht stürzen würde. Es bleibt bei der etwas diffusen Überlegung. Nein, das könnte er nun wirklich niemandem antun, selbst wenn er noch so nervt. Ja, auch wenn er es wirklich verdient hätte.

Einige Tage später wird Herr Nipp übrigens  bei einem Internetfotowettbewerb zum Thema „Flora der südlichen Alpen“ einige seiner Schnappschüsse einfach mal unbearbeitet einstellen und in der Sparte Reportage mit großem Abstand gewinnen. Begründung: „ Die Bilder vermitteln den Eindruck unvermittelter und unverfälschter Naturdarstellung. Trotz oder gerade wegen der konsequenten Vermeidung aller kompositorischen Dramaturgie scheinen die Blumen zu atmen.“

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