Spuren

Noch vor 15 Jahren allerorten in den Bergen sah man speckig glänzende Trittsteine auf den vielbegangenen Routen. Von der permanenten Nutzung wanderfreudiger Touristen mit beschlagenen Wanderstiefeln, die man natürlich auch für den leichtesten Spaziergang ab Seilbahnstation anzuziehen hat, anziehen muss. Schließlich hat der Mensch Erwartungen zu erfüllen. Er muss sich über Äußerlichkeiten gegenüber den Anderen (wer weiß schon, was die denken) beweisen. Und dieses Paar Schuhe hat nun einmal vor drei Wochen 299,- Euro gekostet, deines jedoch, das sieht man an der Farbkombination, ist schon mehr als drei Jahre alt und war damals für gerade mal 249,- Euro zu haben. Lächerlich.

Herr Nipp trägt übrigens alte Lederschuhe mit einfacher stark profilierter Gummisohle, die er vor ungefähr zehn Jahren für 25 Euro im Ausverkauf hatte erstehen können, ein echter Glücksgriff. Seit dieser Zeit hat er damit einige Klettersteige und durchaus längere Wanderungen unternommen, ohne jemals Schwierigkeiten, viel weniger eine Blase bekommen zu haben. Auch weitere schuhbezogene Zwischenfälle hatte es dabei noch nie gegeben, wenn man mal von den verächtlichen Blicken einiger entgegenkommender Modewanderer absah. Diese haben eben genau das oben beschriebene Problem, dafür allerdings mangelt es ihnen oft an Kondition. Nach wenigen hundert Schritten bleiben sie an der  nächsten der Berghütten sitzen und gönnen sich erst einmal ein Bier und eine kräftige Mahlzeit. Nur wer gut gegessen hat, kann wandern oder zumindest zurück zum Lift kommen.

Die Tourismusindustrie jedenfalls erkannte das grundsätzliche Problem mit den speckigen Wanderwegsteinen. Zunächst versuchten die betroffenen Gemeinden mit Hilfe von chemischen oder physischen Hilfsmitteln, den Eindruck der Abgewetztheit zu unterbinden. Die Steine wurden abgelaugt, geätzt oder mit Schleifgeräten traktiert. Dies hatte jedoch gravierende Folgen für die umliegende Botanik und verursachte ganz nebenbei Kosten, die nicht aus dem Gemeindesäckel zu tragen waren. Einige Abgeordnete bemängelten außerdem, dass auf diese Weise die Erosion noch schneller voranschreiten würde. Hatte man doch wahrlich schon genug Angst davor, dass der saure Regen die Felsen wegschmelzen würde.

Letzter Grund sorgte dann wohl mit dafür, dass sich Vertreter aller beteiligten Fraktionen des Tourismus in einer geheimen Konferenz zusammensetzten. Zunächst wusste man sich kaum zu helfen, niemand hatte eine schlüssige Idee, das Problem zu lösen. Ein Abgesandter der Wander- und Outdoor – Ausrüster berichtete in einer Pause ganz nebenbei von einem lange zurückliegenden Ereignis: „Ich habe vor einigen Jahren in den Sextener Dolomiten einen älteren Herrn getroffen, der große Probleme mit seinen Beinen hatte. Er hätte wahrscheinlich überhaupt keine Touren mehr gehen können, und trotzdem sah man ihn ständig zwar angestrengt, doch gut gelaunt im Hochgebirge herumlaufen. Da er ein cleverer Priester vor dem Herrn war und sich nicht immer auf den Schultern der mitgereisten Neffen aufstützen wollte, hatte er sich von Verwandten ausrangierte Skistöcke ausgeliehen. Nun war er in der Lage, quasi auf allen Vieren, auch heftigere Wanderungen zu meistern. Wer sein Gewicht auf mehr Punkte verteilt, kann sicherer und einfacher gehen.“

Die Geschichte verbreitete sich unter den Anwesenden wie ein Buschfeuer, richtete unerwartet verheerende Gedankenspiele an. Eine Idee griff Raum, eine Neuentdeckung, die ultimative Weiterentwicklung des Wandersports. Wer brauchte bei abtauenden Gletschern noch Eispickel, hier war die Zukunft geboren. Die Idee fand Gehör und jeder der Anwesenden erkannte sofort, welches Potential hinter dieser Wanderinnovation von unten stand. Man musste den Menschen nur weismachen, dass es unabdingbar wichtig sei, die Wanderwege mit Hilfe von Hypertechnischen und ultramodernen Aluminium- und Carbonstöcken zu meistern. Man musste ein Bewusstsein dafür schaffen, dass auf diese Weise der gesamte Körper mit unglaublich vielen Muskelpartien trainiert werde.

Ja, eine ganz neue Sportbewegung könne hier aufgezogen werden – mit enormem Wachstumspotential, Breitensport für alle. Das Nordic – Walking und der Stockentensport waren geboren. Man kann diese quasi kirchliche Innovation gar nicht hoch genug einschätzen.

Der Abrieb der Titanstahlspitzen dieser Stöcke an den Steinen hatte zur Folge, dass eben diese Kalkbrocken nun stetig Mikrokratzer erhielten. Der Glanz polierter Felsen ging endlich wieder verloren, es kostete noch nicht einmal, im Gegenteil konnte jeder Hersteller dieser Stöcke daran verdienen. Und die einst langweiligen Wanderer fühlten sich dabei auch noch als hippe Trendsportler. Sogar bei Jugendlichen sind diese Stöcke inzwischen weit verbreitet. Quietschend bunt natürlich, man möchte sich schließlich von anderen, von den Alten absetzen. Ticktack, Klickklack, Toctoc (je nachdem, welche Marke man sich zugelegt hat) macht es nun in den Dolomiten allerorten. Das erinnert die Gehenden übrigens unterbewusst an die Geräusche von Highheels und macht auch das gequälteste Wandern endlich sexy. Nun sieht man also seit einigen Jahren neben den typischen Abdrücken im Wanderkies (kleine Krater, die wirken wie Einschusslöcher eines Maschinengewehrs) auch die weißen feinen Meißelspuren der Stockspitzen auf den Steinen. Einer der Mitwanderer Herr Nipps auf einer längeren Tour meinte, als die sich zu einer Pause gesetzt hatten: „Das sieht auf den Steinen aus, als hätte jemand Tic Tac Toe gespielt.“

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.