Kritikfähigkeit

Im Radio läuft gerade irgendein Lied von The Cure. Schon eine Seltenheit, dass gerade von der ersten Platte „Three imaginary boys“ morgens etwas gespielt wird. Wer weiß, vielleicht liegt es daran, dass die Platte vor inzwischen 45 Jjahren veröffentlicht wurde. Herr Nipp sitzt in einem seiner schwarzen Ledersessel und hat den Laptop dort liegen, wo er hingehört, auf den Oberschenkeln. Eigentlich soll er einen Text schreiben, der noch eigentlicher schon lange hätte geschrieben sein müssen. Aber zuweilen überkommt ihn die alte Prokrastination wieder und dann lässt er die Dinge schlören, als gäbe es nichts Wichtigeres, als die Wohnung zum ixten Mal zu saugen oder die Eibe neben der Kellertreppe zu beschneiden, als den Komposter zu leeren oder zumindest umzuschichten, das Wasserfass auf seinen Stand zu untersuchen und natürlich die lästigen Mückenlarven aus den neu angelegten Teich zu fischen. Dabei muss er einfach nur noch herunterschreiben, denn während all dieser kleinen Arbeiten hat er eine Struktur entwickelt, eine schlüssige Themenfolge und stichhaltige Argumentation. Alles steht in seinem Kopf. Manchmal wünschte er sich ja, eine Sekretärin oder einen Sekretär zu haben, wieviele Texte könnte er jeden Tag veröffentlichen. Ja, er wünschte sich genausogut, dass irgendwann endlich irgend jemand auch dafür etwas bezahlen würde. Es ist schon seltsam, dass einige Menschen für jeden verzapften Blödsinn Geld zugesteckt bekommen und er nicht. Ups, klar, ich bin ein Narzisst, denkt er, nur Narzissten können so denken.
Also schreibt er, stellt Buchstaben an Buchstaben, Wort an Wort, Satz an Satz. Und am Ende angekommen, steht da ein Text, der es in sich hat, der provozieren soll und wird. Ein Text zur Kritikfähigkeit der Menschen, darüber, dass das Mittelmaß fehlt, dass es offenbar nur noch entweder Menschen gibt, die andere inhaltslos kritisieren und niemals an sich zweifeln und andere, die es umgekehrt machen. Zweifeln ohne Grund. Ganz ohne Kritik seine Rede natürlich, aber mit vielen offenen Fragen.
Als er abends den Vortrag halten will, gibt es allerdings ein sogenanntes Unwetter mit mindestens 37 Regentropfen und die Veranstaltung fällt aus. Vielleicht hätte er doch bis nachmittags mit dem Schreiben warten sollen.

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