Brille

Wir kennen die Erzählungen (modern müsste es heute wahrscheinlich Narrative oder Narrationen heißen, hach wie toll ist das aktuelle Öffentlichkeitssprech) alle. Da sucht jemand seine Brille und kann sie dummerweise nicht finden und dann kommt der Partner oder wer auch immer heim und sagt, dass der Suchende sie doch auf der Nase hat. Haha, was haben wir gelacht. Wie kann denn jemand so „trottelig“ (Ich habe mir dieses Wort bei Jan Faktor ausgeliehen, dessen Roman „Trottel“ man unbedingt gelesen haben sollte. Übrigens ein wirklich sympatischer Zeitgenosse, denn es sich lohnt kennen zu lernen.) sein. „Das habe ich bei dir auch nicht anders erwartet.“ und ähnliche Frechheiten werden dann stereotyp gebraucht. Das allerdings soll an dieser Stelle nicht erzählt werden, zu abgedroschen und vor allem ihm noch nie passiert und auch als Erzähler sollte man nicht allzu sehr lügen, wohl den Leser in die Irre führen, ja, das ist erlaubt. Herr Nipp hat seine Brille jedenfalls ernsthaft gesucht, er kam auch sofort auf die Idee, in den Spiegel zu schauen, vielleicht konnte sie sich ja doch irgendwo in seinem glatt rasierten Gesicht oder auf dem ebenfalls weitgehend glatten Haupt versteckt haben. So eine Frechheit der Sehgläser, sozusagen ein bewusster Prozess der Subordination gegenüber ihrem Träger. Einfach zu verschwinden, wo gibt es denn so etwas? Zunächst im Wohnzimmer trachtete er, die Sehhilfe ausfindig machen zu können, dann im Bereich der Dusche, klar, da zieht man sich ja meist vor dem Duschen aus und man hört davon, dass auch Brillen abgelegt werden, Schlafzimmer, Ja, Schlafzimmer, wo sonst, oder doch der Werkraum im Keller, in dem er sich manchmal gerne aufhält,um irgendwelche Ideen zu realisieren. Selbst die kleine Bibliothek ein Fehlschlag. Seine Schwester hat er angerufen, auch dort hatte er sie nicht liegen lassen. Wenn hier von der Brille gesprochen wird, muss der geneigte (hoffentlich nicht gebeugte) Leser wissen, dass es sich eigentlich um drei Brillen handelt, die er wechselweise trägt. Nicht besonders schön, klar, aber zumindest funktionale Nasenrennräder nennt er sein Eigen. Es hilft alles nichts, keins ist zu finden, niemand weiß, wo sie liegen könnten. So versucht er fast den gesamten Tag über, das heißt, immer wieder, seine geschätzte Wochenzeitung mit möglichst großer Distanz zu lesen. So entsteht ein leidlich scharfes Bild der Buchstabenkolonnen. Das Lesen dauert zwar ein wenig länger, aber es geht eben doch so halbwegs. Vor allem dann, wenn die Zeitung wellig liegt, muss er manchmal raten. Aber normalerweise liegt er dann richtig. Man sollte nicht vermuten, dass Redakteure und Journalisten heutiger Zeit selbst angesehener Blätter auch nur ansatzweise dazu neigen, konzeptionell experimentellen Sprachgebrauch zu machen. Das könnte gar noch den nächsten Scheißesturm auslösen, der wohlklingender „Shitstorm“ heißt. Der wahre Wohlfühljournalismus dieser Tage findet nicht nur die richtigen Wohlfühlthemen, sondern ganz nebenbei auch noch eine Wohlfühlsprache, die eher romantischen Ansätzen einer Poetisierung der Welt gleicht als denen des radikalen Expressionismus, der die Welt zerlegt und neu zusammensetzt. Die Wohlfühlpresse bedient sich sprachlicher Weltflucht. An diesem Tag kommt er erst spät zur Ruhe und muss dort im Schlafzimmer feststellen, dass alle drei Brillen unter der Bettdecke liegen.

Und da fällt ihm ein, dass er noch dringend zum Geburtstag gratulieren muss.

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