Einsichten

Er hat sich als Kind schon immer vorgestellt, wie es in anderen Häusern wohl aussieht. So gesehen war es für wirklich spannend, eine Wochenzeitschrift herumzubringen, einmal im Monat musste er Geld einsammeln, meist wurde er hereingebeten, saß mit den Menschen einige Zeit am Küchentisch oder im Wohnzimmer, das immer frisch gestaubsaugt war und plauderte das, was ein Kind eben so mit alten Menschen plaudern kann. Immerhin war er das gewohnt und sprach wohl damals immer mit Feingefühl die richtigen Themen an. So konnte es durchaus zwei Stunden oder mehr dauern, bis er bei allen 30 Abonnenten das Geld einkassiert hatte. Neben den teilweise großzügigen Taschengeldern fand er es fast noch spannender, hinter die Fassaden zu sehen, zu erfahren, wie die Menschen eingerichtet waren. Viele hatten damals in den achtziger Jahren noch ihre Möbel aus den fünfzigern, teilweise aus den sechzigern in den Wohnungen stehen, die ihm schon damals sehr gut gefielen. Alles Alte war ihm lieb. Inzwischen läuft der Wochenzeitschriftenverkauf sicherlich per Überweisung. Niemand hat mehr Zeit, sich freiwillig längere Zeit mit alten Menschen zu unterhalten. Niemand möchte heute noch wissen, was diese Leute so denken, wie sie ihr Leben reflektieren. Auch das fand er damals spannend. Inzwischen hat er neue Wege gefunden, seine Neugier zu stillen. Jedes Mal wenn ein Freund oder eine Freundin aus einem Internetprivatverkauf etwas abzuholen hat, kommt er mit, schließlich besitzt er ja einen Bulli, mit dem eigentlich fast alles zu transportieren ist, ob Trainingsrad oder ausgemustertes Möbelstück. Dadurch hat sich sein Radius auch wesentlich vergrößert. Na gut, er kommt nicht mehr so regelmäßig in alle möglichen Häuser, aber das macht nichts. Der kleine Nervenkitzel der Befriedignung seiner Neugier ist immer noch gegeben.

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