Fensterrahmen

Im Haus gegenüber dem kleinen Getränkemarkt steht der Mann wieder in den Fensterrahmen gelehnt. Er hat eine aufgerollte Badezimmermatte unter den aufgestützten Armen liegen und betrachtet die unter ihm liegende Szene zufrieden mit abgeklärter Neugier. Was bewegt sich unten auf dem Bürgersteig. Die Haut hat eine satte Solariumbräune, der Schädel ist sauber und glatt rasiert. Das Kinn ziert ein sehr gepflegter Fünftagebart, der nicht nur ein wenig an das große Vorbild eines ewig nörgelnden Bürohengstes aus dem Fernsehen erinnert. Zwischen Zweige und Mittelfinger seiner rechten Hand hält er eine selbstgestopfte Zigarette. Wenn junge und mittelalte Frauen mit tiefem Ausschnitt vorbeiziehen, in ihren ewigen Handyplausch vertieft, dann reckt er den Hals etwas und lächelt, wenn er etwas schön Gerundetes zu sehen bekommt.

Jedes Mal wenn Herr Nipp Mineralwasser und alkoholfreies Weizenbier einkauft, dann sieht er vor der Kasse stehend dieses Schauspiel und muss an die alten Frauen denken, die in seiner Kindheit in der gleichen Pose im Fenster saßen. Sie hatten sich ein Kopfkissen untergelegt und unterhielten sich über drei oder vier Stationen über die Straße hinweg. Da es keine Durchgangsstraße war, ging das auch ganz gut, ohne von lästigen Autos gestört zu werden. Jeden Samstagmorgen, wenn er die Brötchen von der sogenannten Hausbäckerei holen musste, konnte dieses Schauspiel erlebt werden. Eine saß immer vor dem Haus auf der Treppenbank. Die Frauen waren sehr alt und sprachen damals noch in Plattdeutsch. So schnell, dass er nichts verstehen konnte. Vielleicht einzelne Brocken. Keine ganzen Zusammenhänge.  Er war immer etwas neidisch auf diese Geheimsprache gewesen, die inzwischen kaum noch eine Überlebenschance hatte. Auch die Plattdeutschvereine lebten nicht gerade vom Nachwuchs, sondern verzögerten nur den Niedergang dieser schönen Kultur. Einige Sätze hatte er wohl auswendig gelernt, allerdings handelte es sich hierbei eher um einen familieninternen Running Gag, den niemand sonst ohne großes Erklärwerk verstehen konnte. Wenn die alten Leute von früheren Zeiten erzählten, wurde immer wieder ganz stolz erwähnt, dass jede Stadt, ja jedes Dorf ein etwas anderes Platt „gekuiert“ hatte. Ja, inzwischen gingen sogar die sauerländer Eigenheiten der deutschen Hochsprache durch die Allgegenwart der Unterhaltungs- und Informationsmedien langsam zurück. Vielleicht wurden alle Wortendungen mit „-er“ immer noch „a“ ausgesprochen, auch das lange „ie“ aus „diese“ wurde zu „i“ verkürzt, die „Karte“ hieß „Katte“, aber das war es inzwischen auch schon fast. Fernsehen und Radio sei Dank. Trotzdem sind Münsterländer (nicht die Hunde) immer noch in der Lage, einen Sauerländer zu erkennen. Ein spanischer Tanzstudent, der im Sauerland Deutsch gelernt hatte, ermutigte seine Kommilitonen dann auch folgerichtig, alle „-er“ als „-a“ auszusprechen, alles andere sei Blödsinn. Man hört, das sei ihm heute noch peinlich.

Als ein Mann unter dem Beobachtungsposten des Glatzkopfes hergeht, den dieser ganz offensichtlich nicht mag, denn das gesamte Gesicht verfinstert sich augenblicklich, kann Herr Nipp plötzlich Gedanken sehen. Innerhalb einer Sekunde. Eine Veränderung in Böshaftigkeit und fieses Grinsen. Er schnippst an der Zigarette. Die Asche fliegt dem Gehenden entgegen und landet zielsicher auf dessen Haaren.

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