Auf einer Lieferempore sitzt Herr Nipp und lässt seine Beine baumeln. Normalerweise würde er in das Gebäude gehen, allerdings hat er seinen Schlüssel verliehen und niemand ist da, der ihm öffnen könnte. Er hat ein kleines Buch aus seiner schwarz-weiß gestreiften Tasche geholt und angefangen zu lesen. Das Druckwerk ist nicht besonders dick, vielleicht an die 120 Seiten stark und die Textblöcke sind großzügig aufgeteilt – es scheint sich von außen betrachtet um Gedichte zu handeln. Immer, wenn er einen dieser Texte gelesen hat, kann ein Innehalten beobachtet werden. Die sonst so klaren braungrauen Augen irren ins Leere, bleiben an einem undefinierbaren Fixpunkt haften. Ja, der Blick wirkt etwas leer und sogar unbeholfen. Dann scheint Erkenntnis aufzuflammen. Ein fast scheues Lächeln erobert das Gesicht. Dies dauert nicht allzu lange, vielleicht ein bis zwei Minuten. Dann wird weitergeblättert, die nächste Seite gelesen. Ganz anders als man heute auf Bahnhöfen und an Bushaltestellen beobachten kann, wo junge und alte Menschen mit gebeugtem Nacken auf einen kleinen Bildschirm schauen und versuchen sich der Welt mitzuteilen, ohne allerdings die Welt um sich wahrnehmen zu können. Anders als jene Leser der neuen E-books , die keine Seiten mehr zu blättern brauchen. Er greift in die Seiten, blättert um, in echt. Er spürt das Papier zwischen den Fingerspitzen, jene sanfte Rauheit eines guten Papiers für Texte, nichts Glattes ist daran, alles scheint sich mit der Haut verbinden zu wollen. Er liest konzentriert, auf den Text bezogen, in sich zurückgezogen. Zunächst stummes Nichtreagieren, irgendwann sachtes Kopfschütteln, dann ganz plötzlich bricht es aus ihm heraus, dieses feine, fast nicht sichtbare Lächeln. Die Stirnhaut entspannt sich und auf der rechten Wange bilden sich zwei leichte Furchen, die Augen werden mit einem feinem Gespinst von Lachfältchen umgeben. Dieser Vorgang wiederholt sich einige Male. Einige Stunden.
Plötzlich springt er von seinem Ansitz herunter, hinkt ein wenig und reibt sich die Oberschenkel. Ein Bein zumindest scheint eingeschlafen zu sein. Gerade wenn man so sorglos auf kaltem Beton sitzt und weltvergessen dort seine Zeit verbringt, kann das passieren. Er massiert immer heftiger, reibt die Haut. In Italien sagt man nicht eingeschlafen, sondern verameist, hatte ihm mal eine gute Freundin verraten, jene ferne Sehnsucht. Dieses Wort fasst den Zustand wirklich treffend. Es fühlt sich an, als würden tausende Ameisen unter der Haut ihre verwirrenden Wege ziehen, ohne Start und Ziel, orientierungslos. Er geht einige Schritte im Kreis, stabilisiert sich. Das Bein scheint seine Funktion wieder aufzunehmen. Auf der Rampe liegt noch immer das Buch, er wird sicherlich gleich weiterlesen und darauf warten, dass irgendwann irgendjemand kommt, um ihm aufzuschließen.
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