Essayistische Gedankenwelt

Dass er sich Gedanken über alles und jedes und Gott und die Welt und dies und das sowie den ganzen anderen Kram macht, ist ihm auch schon aufgefallen. Er schafft es einfach nicht, mal richtig abzuschalten, das Reflektieren über die Realität, in der er sich fühlt, geht einfach nie zu Ende oder hat andere Unterbrechungen als den Schlaf. Wo er geht und steht, wo er liegt und isst, es ist völlig egal. Solche Überlegungen kennt wahrscheinlich jeder. Da kommt Herr Nipp vom Hölzchen aufs Stöckchen und am Ende der Betrachtung war es mal wieder ein ganzer Waldboden, den er betrachtet und beschrieben hat. Nicht nur der gefallene Zweig einer von Käfer geschädigten Fichte, sondern auch der Trockenwurf der alten Eiche, die eigentlich noch weitere dreihundert Jahre hätte leben sollen, werden auf das Genaueste untersucht, jede Kleinigkeit wird betrachtet, von allen Seiten quasi dreidimensional gesehen und letztlich wieder auf dem Waldboden abgelegt, als sei nichts geschehen, als sei dieser zufällige Gegenstand nicht für einige Momente das Zentrum seiner Welt gewesen. Nein, ein Ziel haben diese Denkflüge durch die Wahrheit der Wahrnehmung nicht. Welches sollten sie auch haben. Vielleicht wird jemand jetzt sagen, dass schon das begreifen Wollen ein Ziel darstellt. Aber so sieht es Herr Nipp nun wahrlich nicht. Ja, vielleicht hilft jede Betrachtung beim grundlegenden menschlichen Wunsch nach umfassendem Weltverständnis, aber es ist eben nur ein Wunsch. Nichts ist wirklich nachhaltig und ob sich aus irgendetwas Sinn ergibt, bleibt fragwürdig. Manchmal spricht er auch mit seinen Freunden darüber, was in diesen Zeiten nicht ganz so häufig vorkommt, aber doch regelmäßiger, als er dies zu Beginn der Pandemie erwarten zu glauben auch nur ansatzweise gewagt hätte. Die Themen kommen und gehen dann in wunderbarem Chaos in einander über, von den letzten Infektionszahlen zu den auf sich warten lassenden Impfungen zu den vollen Krankenhausbetten bis zur Kollegin, die letztlich selber infiziert war. Ist das denn nicht jene Kollegin, die sich seit Jahrzehnten in der Kommunalpolitik engagiert? So kommt er dann ganz zwanglos zu den letzten Wahlen und warum so viele Bürger extrem rechts oder links wählen, als sei ihnen die Demokratie an sich zuwider, ob die Menschen sich inzwischen mehr Gedanken über Umwelt und Klima machen oder heute tatsächlich mehr Personen als Parteien gewählt werden und wer denn besonderes Charisma hat und hatte. Es ist doch so verdammt schade, dass diese oder jener nicht mehr tätig ist oder sein will und überhaupt muss man sich ja mal Gedanken über die Zeit nach der aktiven Berufstätigkeit machen oder nicht. Was hältst du eigentlich dann von Hobbys oder sollte man sich lieber ehrenamtlich betätigen oder vielleicht doch einige Seminare an der Seniorenakademie besuchen und wenn welche. Vielleicht Kulturwissenschaften oder Literatur oder, und das wäre doch auch was Tolles, was wäre denn wohl, wenn man sich eine alte Jagdhütte als Wochenendsitz flottmachen würde, wobei wir wieder beim Wald wären… Ja, die Gesprächsverläufe zeigen immer wieder, dass der Mensch abschweift, vor allem aber Herr Nipp, der andererseits es überhaupt nicht vertragen kann, wenn alles oberflächlich bleibt. So sagte dieser Tage einer seiner wirklich klugen Freunde, er sei so etwas wie ein oraler Essayist. Er versuche ein einzelnes Thema so weit auszuspinnen, dass man irgendwann das Gefühl habe, dass alle Aspekte ausgedeutet seien. Und er gebe dem Zuhörer doch immer das Gefühl, dies sei erst das Präludium gewesen. Herr Nipp hat dies noch nie so gesehen, aber jetzt weiß er wenigstens, dass es einen Grund für sein Gefühl sehr kurzer dreistündiger Spaziergänge gibt.

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