Weihnachtsmorgen

Lange geschlafen hat er an diesem Tag. Warum hätte er auch vor neun aufstehen sollen. Nach dem „Heiligabend mit Freund und Hirsch“ weiß er ja, dass bis Mittag niemand hier erscheinen wird. Er hat den Iron Dog, seinen Kaminofen, schon ausgefegt und darin ein Feuer neu entzündet. Innerhalb von zehn Minuten war die Wohnung, die er vorher per Durchzug gelüftet hatte, wieder warm. So warm, dass er sogar vergessen hat, seine Socken anzuziehen. Als er sich irgendwann endlich an den Frühstückstisch begibt, sieht er die Weihnachtssocken, die ihm gestern von den beiden Söhnen geschenkt wurden, und zieht sie an. Er muss lächeln, oben steht da „MERRY christmas DAD“ eingewebt. Ansonsten ein Norwegermuster mit roter Zehenspitze. Und bequem sind sie auch noch. Herr Nipp gießt sich einen Kaffee ein, schmiert sich ein Stück vom gestrigen Baguette mit selbst gewürztem Frischkäse und liest in einem der Bücher, die ihm auf den Gabentisch gelegt wurden. Gedichte von A.J. Weigoni. Mal so chiffriert, dass er mehrfach lesen muss, mal vor Ironie oder Zynismus triefend, so eben wie dieser Rheinländer-Ungar war, immer aber ein poetisches Ab- und Auftauchen von Wörtern und Zeichen. Er beißt in sein Brot, schaut in den Garten, in dem die ersten Vögel schon ihr Futter aufpicken, zwei Türkentauben, wundervolle graue Wesen mit einem schwarzen Halsring, die immer paarweise hier auftauchen. Und während am gegenüber liegenden Haus die Rollläden langsam automatisch geöffnet werden, muss er feststellen, dass das Baguette hart geworden ist über Nacht. Vielleicht hätte er es doch nicht auf dem Tisch liegen lassen sollen. Und da kommt ihm der alte Spruch in den Sinn, der früher bei Bäcker Hillebrandt in Brot gebacken im Schaufenster stand und den die Mutter so oft zitiert hatte: „Altes Brot ist nicht hart. Kein Brot, das ist hart.“ Und so isst er sein hartes Brot und kann dabei vor sich hin grinsen, gleichzeitig.

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.